Lange war die Wissenschaft davon ausgegangen, dass Seesterne über keinen Kopf verfügen, sondern im Wesentlichen nur aus einem Rumpf mit Armen bestehen. Jüngst konnten Forscher aber genau das Gegenteil beweisen.
Ein „jahrhundertealtes Rätsel gelöst“ – mit diesem sensationsheischenden Aufmacher wurde jüngst in den verschiedensten Medien bis hin zur „Bild“-Zeitung eine neue wissenschaftliche Entdeckung gefeiert. Wobei es sich keineswegs um revolutionäre Erkenntnisse beispielsweise um die Entstehung der Pyramiden oder um Stonehenge gehandelt hatte. Vielmehr ging es um Gewebetierchen, im Fachjargon als Eumetazoa bezeichnet, genauer gesagt um die Seesterne, die eine Klasse der sogenannten Eleutherozoen innerhalb des Stamms der Stachelhäuter (Fachbezeichnung: Echinodermata) bilden. Weltweit sind in sämtlichen Ozeanen bis zu 1.600 verschiedene Arten von Seesternen, deren wissenschaftlicher Name Asteroidea lautet, anzutreffen. Wobei in der deutschen Nord- und Ostsee nur der sogenannte Gemeine Seestern lebt, der wie die meisten seiner für den Menschen größtenteils harmlosen Artgenossen über fünf Arme verfügt. Es gibt jedoch auch einige Arten mit bis zu 50 Armen, auch die Körpergröße der diversen Arten kann zwischen einem Zentimeter und einem Meter doch erheblich divergieren.
In-situ-Hybridisierung der Gewebeschichten
Die Seesterne, die seit rund 480 Millionen Jahren die Weltmeere in ihrer aktuellen Gestalt bevölkern, haben der modernen Wissenschaft bis heute viele ungelöste Rätsel aufgegeben. Als gesichert gilt, dass sie über kein Blut, aber über ein Nervensystem und über Saugnäpfe an den Armen verfügen, dass sie vorwiegend getrenntgeschlechtlich sind, sowie zur Nahrungsaufnahme ihren Magen nach außen stülpen können. Womöglich besitzen sie an den Armspitzen auch primitive Versionen von Komplexaugen. Lange wurde gemutmaßt, dass die Stachelhäuter möglicherweise keinen Kopf und daher auch kein Gehirn besitzen. „Der Körper ist in Rumpf und primär fünf Arme gegliedert“, so beispielsweise nachzulesen im „Lexikon der Biologie“ des Wissen-Portals spektrum.de. Rein anhand der Anatomie und der Morphologie (der Lehre von der Struktur und Form der Organismen) ließ sich nichts nachweisen, was einem Kopf auch nur annähernd ähnlich gesehen hätte.
Die meisten Tiere der Erde weisen eine sogenannte bilaterale Symmetrie auf, das heißt, bei ihnen lassen sich vom Kopf bis zu den Füßen entlang einer Mittellinie zwei gleiche, symmetrisch-spiegelbildliche Teile nachweisen. Bei Seesternen, wobei an dieser Stelle nur die meistverbreiteten Arten mit fünf Armen betrachtet werden sollen, ist eine solche bilaterale Symmetrie nicht vorhanden. Stattdessen wird bei ihnen von einer sogenannten radialen beziehungsweise pentaradialen (fünfstrahligen) Symmetrie gesprochen. Die fünf tentakelartigen Arme strahlen von einem zentralen Körperpunkt aus. Der Organismus lässt sich gewissermaßen in fünf gleiche Teile aufgliedern. „Wenn man sich einen solchen Seestern anschaut, gibt es nichts, was dem eigenen Kopf ähnelt. Man hat einfach keine Ahnung“, so der Molekular- und Zellbiologe Laurent Formery von der kalifornischen Stanford University, der gemeinsam mit Kollegen der University of California in Berkeley mit Daniel Rokhsar an der Spitze kürzlich im Fachmagazin „Nature“ eine bahnbrechende Studie über die Anatomie der Seesterne veröffentlichte.
Für seine Untersuchungen konzentrierte sich das Forscherteam auf junge Vertreter der fünfarmigen Seestern-Art namens Patiria miniata, die häufig auch als Fledermaus-Seestern bezeichnet wird. Allerdings wählten die Wissenschaftler für ihre Studie, bei der sie endlich herausfinden wollten, wo sich bei dem sternförmigen, durch fünf identische Arme bestimmten Aufbau der Seesterne Kopf und Körper befinden, im Unterschied zu früheren Arbeiten einen gänzlich neuen Ansatz. Statt möglichst genau die Anatomie unter die Lupe zu nehmen, entschieden sie sich für einen molekularen Fokus samt RNA-Tomographie und sogenannter In-situ-Hybridisierung der Gewebeschichten. „Untersuchungen dieser Art hätten früher Monate gedauert“, so die Forscher. „Jetzt können sie innerhalb weniger Stunden erledigt werden und sind hundertmal günstiger als noch vor fünf Jahren.“ Ohne den Einsatz modernster Technologie wäre die Studie kaum realisierbar gewesen. „Lange Zeit hatten wir nur Zugang zur Anatomie und Morphologie“, so Laurent Formery. „Und die sind nicht sehr hilfreich, wenn man sich einen Seestern ansieht. Seit kurzem können wir die Morphologie ignorieren und uns nur auf die molekularen Aspekte der Entwicklung konzentrieren.“
Genauer gesagt untersuchten die Wissenschaftler, in welchen Körperpartien des Seesterns verschiedene Gene während der Entwicklung und des Wachstums exprimiert werden. Diesen genetischen Code galt es bei den Seesternen zu entschlüsseln. Weil in der Tierwelt die Aktivität bestimmter Gene während der Embryonalentwicklung charakteristisch für die Ausbildung der verschiedenen Körperteile wie Kopf, Rumpf oder Schwanz ist. Was nichts anderes bedeutet, als dass sich ein Abschnitt eines Tierkörpers auch anhand der Genexpression den jeweiligen Körpersegmenten zuordnen lassen kann. Das Team analysierte die entsprechenden Gene in den einzelnen Gliedmaßen der Seesterne. Wobei es erwartet hatte, dass es einige Gene finden würde, die einem Kopf oder auch einem Rumpf zugeordnet werden könnten. Doch nachdem die Wissenschaftler eine dreidimensionale Körperkarte der Genexpression erstellt hatten, wurden sie vom Ergebnis regelrecht überrascht: „Es ist, als ob der Seestern keinen Rumpf hätte und am besten als Kopf beschrieben werden könnte, der über den Meeresboden krabbelt“, so Laurent Formerly. „Das ist ganz und gar nicht das, was Wissenschaftler über diese Tiere angenommen haben.“
Ein Kopf, der über den Meeresboden krabbelt
Erstaunlich für die Forscher war vor allem, dass mit Ausnahme der äußersten Spitzen der Arme kein genetisches Muster für die Ausbildung einer Rumpfregion gefunden werden konnte. „Es ist wirklich eine radikale Transformation des ursprünglichen Körperplans. Gemäß unserem Modell sind Stachelhäuter wie Seesterne oder Seeigel eines der extremsten Beispiele für die Entkoppelung von Rumpf und Körper, die wir heute kennen“, so das Team. Das allerdings konnte keine Erklärung dafür liefern, warum die Seesterne im Laufe der Evolution ihren Körper auf einen fünfzackigen Kopf reduzierten, während bei den ältesten bekannten Fossilien von Stachelhäutern noch die Existenz eines Rumpfs nachgewiesen werden konnte. Die Entdeckung sei jedenfalls „sehr seltsam“, so die Forscher: „Niemand hatte sich das wirklich vorstellen können, bevor wir Zugang zu den von uns erhobenen Daten hatten.“
Nicht gänzlich ausschließen wollten die Wissenschaftler zudem, dass Seesterne nicht nur aus einem einzigen Kopf bestehen, sondern dass sie neben dem mittigen Kopf auch noch weitere Köpfe in jedem ihrer Glieder haben könnten. Jedenfalls konnten in den Armen Kopf-typische Genexpressionen ermittelt werden. Wobei sich automatisch die Frage stellt, ob Seesterne in ihren Köpfen auch über Gehirne verfügen könnten. „In den Lehrbüchern steht, dass Seesterne ein sehr einfaches Nervensystem haben“, so Laurent Formery, „so als hätten sie kein Gehirn. Das ist interessant, denn die von uns durchgeführten Studien deuten darauf hin, dass einige der Gene, die das Nervensystem eines Seesterns hervorbringen, auch die Gene sind, die während unserer eigenen Entwicklung für die Bildung des Gehirns verantwortlich sind. Ich denke, das wirft sehr interessante Fragen auf: Was ist das Nervensystem eines Seesterns? Und ist es ein Gehirn? Ist es im Grunde nur ein Gehirn?“ Auf jeden Fall wollen die Forscher in naher Zukunft nach ähnlichen Genmustern bei anderen Stachelhäutern wie Seeigeln oder Seegurken fahnden: „Wenn wir die Gelegenheit ergreifen, ungewöhnliche Tiere zu erforschen, die auf ungewöhnliche Weise funktionieren, bedeutet das, dass wir unsere Perspektive der Biologie erweitern. Das wird uns helfen, sowohl ökologische als auch biomedizinische Probleme zu lösen.“