Martin Luther war zwar nicht der Schöpfer der deutschen Sprache. Aber seine genialen Wortkompositionen, mit deren Hilfe er die Bibel auch für das einfache Volk verständlich machte, prägen bis heute die Alltagssprache.
Jede Epoche hatte sich ihr eigenes Bild von Martin Luther gemacht und damit den Reformator für sich vereinnahmt. Nur ein offensichtlich unumstößliches Gemeingut wurde dabei nie ernsthaft in Frage gestellt: Luther als Schöpfer der deutschen Sprache. Kein Wunder, lassen sich auch heute noch sehr viele gebräuchliche Wörter, Wortbildungen, Metaphern, Sprichwörter oder Redensarten – für uns meist völlig unbewusst – direkt auf Luther zurückführen. Zu Recht wird er in der modernen Wissenschaft unisono als Sprachgenie oder als sprachgewaltig angesehen. Doch seine Idealisierung zum germanischen Sprachenschöpfer wird inzwischen ebenso als großes Missverständnis angesehen wie seine Stilisierung zum Vorkämpfer der deutschen Nation mit seiner Bibelübersetzung als Vehikel einer großen Einigungsbewegung.
Luther konnte schon deshalb nicht der Schöpfer einer sich über das Chaos der zahllosen Mundarten erhebenden neuhochdeutschen Schrift- und Nationalsprache sein, weil eine so umfassende Sprachentwicklung niemals als Leistung einer Einzelperson in solch kurzer Zeit gedacht werden kann. Aber mit seiner Bibelübersetzung hat Luther so etwas wie einen Samen für ein künftiges Standarddeutsch geschaffen. Dieses konnte sich dank der kontinuierlichen Beschäftigung mit diesem literarischen Text über alle Landes- und Mundart-Grenzen hinweg allmählich herausbilden. Durch die Aneignung der Bibel in der Übersetzung Martin Luthers wurde daher im Reich ein Prozess zur Vereinheitlichung der Sprache in Gang gesetzt, wie er in anderen europäischen Ländern auf Anordnung der Zentralgewalt oder dank politischer Zentren wie London oder Paris auf den Weg gebracht worden war.
Im Deutschen Reich gab es zu Luthers Lebenszeit etwa 20 ausgeprägte Dialekte und zwei große Sprachgebiete. Die Unterschiede zwischen dem Oberdeutschen im Süden, mit Bayern, Franken, Schwaben und Österreich, und dem Niederdeutschen im Norden, entlang der Küsten, in Niedersachen und Westfalen, waren so groß, dass eine Verständigung kaum möglich war. Es handelte sich schlicht fast um zwei verschiedene Sprachen. Luther hatte das Glück, dass er gewissermaßen an einem Schnittpunkt lebte und wirkte, wo es zu einer Überlappung dieser beiden großen Sprachgebiete kam. Nämlich im Mitteldeutschen, das in Sachsen, Thüringen, Hessen und im Rheinland geläufig war.
Luther hatte eher fürs Ohr als fürs Auge geschrieben
Luther, der vermutlich wie kein zweiter Deutscher unsere Muttersprache geprägt hat, war auch deshalb so sprachmächtig, weil er gleich mehrere Dialekte beherrschte. Seine aus Eisenach und Möhra stammenden Eltern sprachen eine Variante des Ostmitteldeutschen, in Mansleben und Eisfeld machte er Bekanntschaft mit dem Niederdeutschen, in Wittenberg schließlich lernte er das Obersächsische kennen. „Deutschland hat mancherley Dialectos, Art zu reden also, dass die Leute in 30 Meilen Weges einander nicht wol können verstehen“, beklagte er sich einmal. Das Oberdeutsche stellte mit seinen sprachlichen Sonderheiten offenbar das größte Problem dar. Das lässt sich daran ablesen, dass im Süden des Reiches manche der in Luthers Bibel verwendeten Wörter von Anfang an nur dank beigelegter Übersetzungshefte verständlich waren. Aber auch in Norddeutschland gab es noch ein Jahrhundert lang eine plattdeutsche Version der Luther-Bibel.
Luther hatte für seine Bibel keine Kunstsprache erfunden, sondern er bediente sich einer im Behördenalltag seiner Umgebung verwendeten Sprachform. Die kursächsische Kanzleisprache der Wettinerfürsten wurde aber auch in der Kanzlei der Wiener Habsburger verstanden, da diese für amtliche Dokumente reichsweit benutze Schreibsprache weitgehend von speziellen Dialektwörtern, regionalen Schreibweisen und grammatikalischen Besonderheiten bereinigt war. „Ich rede nach der sächsischen Kanzlei“, sagte Luther seinerzeit in einer Tischrede, „der alle Fürsten und Könige in Deutschland nachfolgen; alle Reichsstädte und Fürstenhöfe schreiben nach der sächsischen und unseres Kurfürsten Kanzlei. Darum ist es die allgemeinste deutsche Sprache.“
Allerdings hütete sich Luther bei seiner Bibelarbeit davor, den geschraubten Stil und die knochentrockene Ausdrucksweise der Beamten zu übernehmen. Stattdessen verwandelte er die Kanzleisprache dank unbefangener, sprudelnder Kreativität in ein geschmeidiges Deutsch voller Leben und anschaulicher Sprachbilder. Dies war nur möglich, weil Luther die Bibel nicht Wort für Wort übersetzte, sondern vielmehr bei jeder Textpassage versuchte, den Sinn möglichst genau wiederzugeben.
Gottes Wort nicht buchstabengetreu zu übertragen, war eigentlich ein Sakrileg. Und dafür wurde Luther von seinen Gegnern auch heftig kritisiert. Aber der Erfolg sollte ihm Recht geben. Die ersten 3.000 Exemplare seines Neuen Testaments waren schon innerhalb von drei Monaten nach Erscheinen im September 1522 ausverkauft. Und das, obwohl schon die ungebundene Ausgabe einen halben Gulden kostete, wofür ein Bauer zwei Pflüge erwerben konnte und eine Magd monatelang arbeiten musste.
Aber Bauern und Mägde werden die Bibel zunächst kaum gekauft haben. Denn auch wenn sich Luther schon 1520 im Rahmen seines Reformprogramms in gleich drei Schriften für die Hebung des Bildungsstandes des einfachen Volkes stark gemacht hatte, so konnten doch 90 Prozent der Deutschen weder lesen noch schreiben. Von daher waren die meisten Leute darauf angewiesen, dass ihnen die Heilige Schrift vorgelesen wurde. Luther hatte daher eher für das Ohr als für das Auge geschrieben. „Die Buchstaben“, so fand Luther, „sind todte Wörter, die mundliche Rede sind lebendige Wörter.“ Von daher war es ratsam, möglichst klare und einfache Sätze zu verwenden. Damit unterschied sich seine Bibel grundlegend von früheren Übersetzungen in die deutsche Sprache, denn vor Luthers „Septembertestament“ 1522 hatte es bereits 18 gedruckte deutschsprachige Bibeln gegeben. Die erste wurde 1466, gerade einmal elf Jahre nach der ersten lateinischen Gutenberg-Bibel, von Johannes Mentellin in Straßburg gedruckt. Schon um 1330 hatte ein namentlich unbekannter Österreicher eine erste Bibelübertragung in die deutsche Sprache fertiggestellt, die sogar mit volkstümlichen Legenden angereichert war.
Er wollte stets „dem Volk aufs Maul schauen“
In Luthers Augen war das eine absolute Sünde, schließlich hatten Heiligenlegenden und Volksglauben in seiner auf dem Leitmotiv „Sola Scriptura!“ basierenden Theologie nichts zu suchen. Aber immerhin war diese frühe Übersetzung so beliebt, dass allein von der Übertragung des Neuen Testaments 60 Abschriften bekannt sind. Die späteren 18 Bibel-Übersetzungen waren dank der mühsamen Wort-für-Wort-Übersetzungen harte Kost und höchstens für Gelehrte, Bischöfe oder Priester bestimmt.
Anders Luthers Arbeiten, wobei er schon beim Neuen Testament im Unterschied zu all seinen Vorgängern nicht mehr auf die gute alte lateinische Vulgata mit ihren diversen Übertragungsfehlern zurückgegriffen hatte, sondern auf den griechischen Urtest als Basis für seine Übersetzung. Für das Alte Testament sollte er sich später mithilfe von Philipp Melanchthon dem hebräischen Original zuwenden. Bis zur Ausgabe letzter Hand 1545 hatte Luther immer wieder an seinen Formulierungen gefeilt, hatte neue Wortspiele oder poetische Bilder eingebaut. Immer vor dem Hintergrund, dem „Volk aufs Maul schauen“ zu wollen. Womit er auf die ganz bewusste volksnahe Schlichtheit und Anschaulichkeit seiner Ausdrucksweise und das Vermeiden von schwülstigen Fremd- und Modewörtern anspielte. Dies, damit auch der gemeine Mann die Bibel verstehen konnte, womit diese von einem unverständlichen Kirchenschatz zu einem Volksbuch werden konnte, gemäß der Lehre vom Priestertum aller Gläubigen.
Zahllose von Luther geschaffene Wörter oder Redensarten sind in die deutsche Sprache eingegangen: Perlen vor die Säue werfen, auf Sand bauen, sein Licht unter den Scheffel stellen, die Zähne zusammenbeißen, durch Schaden wird man klug, Wolf im Schafspelz, auf Herz und Nieren prüfen, Hochmut kommt vor dem Fall, wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, Lückenbüßer, Schandfleck, Lästermaul, Gewissensbisse, Feuereifer, Herzenslust, friedfertig, kleingläubig, wetterwendisch, lichterloh und viele mehr.
Die Bibel war schon bei Luthers Tod in vielen deutschen Haushalten vorhanden, meist als einziges Buch überhaupt. Dank Luther, der so etwas wie eine veritable Denkmaschine war, ein gigantisches Schriftengebirge aufgehäuft hatte und seit 1834 mit seiner Bibel die durchgängige Substantiv-Großschreibung salonfähig machte, wurden im Reich die Buchproduktion und der Buchmarkt regelrecht angekurbelt. Von zuvor im Schnitt 200 Titeln schnellte die Zahl der Publikationen auf rund 900 pro Jahr hoch. Wittenberg wurde zu einem Zentrum des neuen Buchgewerbes. Die dort ansässigen Drucker trugen das ihre dazu bei, Luthers Sprache zusätzlich einen Feinschliff zu verpassen, damit die Bücher auch weitab der kursächsischen Heimat genügend Abnehmer finden konnten.