Das Grundgesetz war der Bauplan für die demokratische Erfolgsgeschichte. Eine Demokratie ist aber keine gottgegebene Selbstverständlichkeit. Sie stirbt, wenn sie nicht verteidigt wird.
Unser Grundgesetz ist ein Glücksfall für Deutschland. Sein 75-jähriges Jubiläum ist ein Anlass festzustellen: Das Grundgesetz war der Bauplan für die demokratische Erfolgsgeschichte eines Landes, das zuvor Europa und die Welt in Angst und Schrecken versetzt hatte. Das Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 war der Startschuss für die Bundesrepublik Deutschland, „ein Volk guter Nachbarn“ zu sein. Das Grundgesetz hat sich ohne Frage bewährt.
Die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes zogen die richtigen Lehren vor allem aus dem Scheitern der Weimarer Republik und damit auch der Weimarer Reichsverfassung.
Sie schufen einen föderalen Staat mit einem starken Parlament, das die Regierung bestimmt. Sie vermieden einen mit übergroßer Machtfülle ausgestatteten Präsidenten und auch im Grundgesetz festgelegte Regelungen, wie etwa das konstruktive Misstrauensvotum, tragen zur Stabilität unserer Demokratie bei. Besonders wichtig aber ist die Position der Grund- und Menschenrechte prominent am Anfang unseres Grundgesetzes.
Wenn es um die Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte geht, ist unser Grundgesetz nicht neutral, kein wertefreier Rechtstext. Im Gegenteil. Es ist getragen von einer humanitären, demokratischen Weltanschauung. Und zwar ganz bewusst.
So beginnt unser Grundgesetz mit dem für mich schönsten, klarsten und wichtigsten Satz eines deutschen Gesetzestextes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Was für eine Kraft dieser Satz hat! Unser Grundgesetz fängt bei den Menschen an. Denn für die ist der Staat da.
„Ein Volk guter Nachbarn“
Das 75-jährige Jubiläum des Grundgesetzes muss aber auch Anlass sein, grundsätzlich über den Zustand unserer Demokratie nachzudenken.
Wir leben in einer Zeit, in der der Zusammenhalt unserer Gesellschaft unter Druck steht. Der Respekt für das jeweilige Gegenüber nimmt ab. Verrohung und Unversöhnlichkeit nehmen zu. Zugleich nehmen demokratiefeindliche Tendenzen zu und auch die Gewalt gegen Amts- und Mandatsträger und ehrenamtlich Engagierte nimmt zu. Staatliche und demokratische Institutionen werden von Populisten, nicht selten mit Geld- und Impulsgebern aus ausländischen Autokratien, erst verächtlich gemacht und dann delegitimiert, um sie schrittweise zu zerstören. Das ist auch der Nährboden für Extremisten und Feinde der Demokratie, gegen die wir unsere Demokratie verteidigen müssen – ob das nun Rechtsextreme, Reichsbürger oder linksradikale Spinner sind oder Kalifatsliebhaber und Judenhasser. Die Feinde der Demokratie, so sieht es im Jahr des 75. Jubiläums unseres Grundgesetzes aus, pfeifen auf das Gewaltmonopol des Staates, lassen den Respekt vor seinen Vertretern vermissen und scheuen auch vor roher Gewalt nicht zurück.
Deshalb ist es wichtig, sich bewusst zu machen, was das Grundgesetz ist und was es vor allem auch nicht ist. Für mich ist das Grundgesetz vergleichbar mit dem Rahmen eines Gemäldes: Dieser Rahmen schafft die Stabilität für das eigentliche Bild, er beschränkt sich auf das Wesentliche, gibt aber dem Gemälde seinen Halt. Und er spannt einen Raum der Freiheit und des Rechts auf, der jedem Einzelnen Rechte als Mensch garantiert, die der Staat schützt. Die Leinwand selbst aber müssen wir alle ausfüllen.
Denn das ist auch eine Lehre aus der deutschen Geschichte: Eine Demokratie ist keine gottgegebene Selbstverständlichkeit. Sie stirbt, wenn sie nicht verteidigt wird. Demokratie ist erheblich mehr als ein Wahlakt alle vier oder fünf Jahre. Demokratie braucht täglich die Demokratinnen und Demokraten, die sie mit Leben erfüllen und sie auch verteidigen.
Wie entscheidend das ist, haben wir durch das Scheitern der ersten deutschen Demokratie schmerzlich erfahren. Weimar ist nicht in erster Linie an seiner Verfassung gescheitert, sondern vor allem daran, dass zu wenige bereit waren, die Verfassung als demokratische Bürgerinnen und Bürger, als Beamte in deren Institutionen, wie auch in Verantwortung stehende Politikerinnen und Politiker nicht nur zu respektieren, sondern auch zu leben und zu verteidigen. Doch genau das ist, was Deutschland im Jahr 2024 von dem des Jahres 1933 unterscheidet.
Und das ist die gute Nachricht in diesem Jubiläumsjahr. Die vernünftige, demokratische Mitte ist stabil. 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes leben wir in einer intakten, funktionierenden Demokratie. Die sehr große Mehrheit der Menschen möchte in keinem anderen System leben. Sichtbarer Ausdruck dafür waren die Großdemonstrationen, die wir in diesem Spätwinter und Frühjahr erlebt haben. Dass sich selbst in kleineren Städten Tausende daran beteiligt haben, war ein eindrucksvolles Zeichen dafür, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt und demokratisches Bewusstsein lebendig sind. Es ist um die politische Kultur in unserem Land zum Glück viel besser bestellt als von manchen befürchtet. Und ich glaube, dass vielen dadurch wieder bewusst geworden ist, wie unverzichtbar demokratische Institutionen sind – unsere Parlamente, in denen hart in der Sache, aber fair im Umgang miteinander um gute Lösungen für komplexe Probleme gerungen wird; unsere Polizei, die unsere Grundwerte schützt; oder unabhängige Gerichte, die ohne Ansehen der Person das Recht durchsetzen.
„Zukunft gibt es nicht zum Nulltarif“
Gleichzeitig sehen wir, dass immer mehr Menschen mit unserem demokratischen System fremdeln. Frust und Verunsicherung sind auch das Ergebnis von unbarmherzigem Streit in der Politik und dem Gefühl, Entscheidungen nicht nachvollziehen zu können. Diese Zweifel resultieren aber auch daher, dass demokratische Prozesse oft mühsam sind und zu Kompromissen statt zu raschen und vermeintlich auf der Hand liegenden Lösungen führen.
Wir im Saarland haben es zudem mit einem tiefgreifenden wirtschaftlichen Strukturwandel zu tun. Weil der sehr viele Arbeitsplätze betrifft, macht er sehr vielen Menschen Sorge. Ich habe in meinem Leben gelernt, das es in Ordnung ist, Sorge zu haben, was die Zukunft bringt. Entscheidend ist, dass man den Mut haben muss, trotzdem morgens aufzustehen. Trotzdem zur Arbeit zu gehen. Trotzdem in die Zukunft zu investieren. Als Ministerpräsidentin habe ich mir zum Grundsatz gemacht, dass nicht Angst hilft, sondern Arbeit und mutige Entscheidungen. So ticke ich jedenfalls.
Ich kann niemandem versprechen, dass der Strukturwandel leicht wird. Denn das wird er nicht, das sehen wir bereits immer wieder. Mein Ziel aber ist, dass die Saarländerinnen und Saarländer in zehn Jahren sagen: „Der Strukturwandel war hart. Aber ich hab das geschafft. Meine Firma hat das geschafft. Wir haben das geschafft.“ Zukunft gibt es nicht zum Nulltarif. Zukunft muss erarbeitet und erkämpft werden. Ebenso wie unsere Demokratie. Beides bedingt einander. Deshalb müssen wir der Demokratie eine Zukunft sichern und die Zukunft gemeinsam demokratisch gestalten. Wir alle, jeder Einzelne und jede Einzelne von uns, kann dazu beitragen.