Durch aufgewühlte See mit tiefen Wellentälern, vorbei an imposanten Kreidefelsen, bis hin zur berühmten Meerjungfrau – FORUM-Autor Andreas Burkhardt paddelte in acht Tagen rund 350 Kilometer durch die Dänische See. Eine echte Herausforderung.

In Travemünde ist das Staunen groß. Zwischen der historischen Viermastbark „Passat“ und der Lotsenstation gleitet ein Delfin durchs Hafenbecken. Ein paar Hundert Meter weiter draußen, in der Lübecker Bucht, entsorgen Marineboote Kampfmittel aus dem Zweiten Weltkrieg. Und fast unbemerkt von allen Schaulustigen an und auf den Molen breche ich zu einer waghalsigen Tour nach Kopenhagen auf. Mit dem Kajak. Rund 350 Kilometer entlang der Küste und übers Meer. An Bord nur das Nötigste: Zelt, Kleidung, Suppen, Wasser, Kompass und für den Notfall ein Funkgerät. Fairerweise sollte ich erwähnen, dass ich nicht alleine bin. Ein „Support Ship“ fährt mit, Katja, meine Freundin, begleitet mich mit Auto und Fahrrad zu Lande. Wenn alles gut geht, sollte ich Kopenhagen in acht Tagen erreichen. Aber warum sollte alles gut gehen? Die Ostsee, Segler wissen das, ist kein friedliches Meer, eher eine zickige Geliebte. Es geht nicht alles gut.
Das Kajak kommt an die Grenze

Manche Menschen suchen das Abenteuer. Ich gehöre dazu. Warum das so ist? Irgendein Mangel. Irgendeine Macke. Fehlende Liebe vermutlich. Oder einfach nur der tiefe Wunsch, aus der Geborgenheit des Alltags auszubrechen, Strapazen auf sich zu nehmen, das nackte, pure Leben ganz nah an sich heranzulassen, um sich selbst zu spüren. Leo Tolstoi hat das treffend beschrieben: „Was ich wünschte, war Bewegung und nicht ein ruhiges Dahinfließen des Lebens. Es verlangte mich nach Aufregungen und Gefahren, nach Selbstaufopferung um eines Gefühls willen. In mir war ein Überschuss von Kraft, der in unserem stillen Leben keinen Raum zur Bestätigung fand.“
Der erste Tag auf See ist ein Wunder an Ruhe. Es ist nahezu windstill. Seltsam nur die grünen Schwebeteilchen im Wasser, die Lübecker Bucht sieht irgendwie nicht gesund aus. Ich paddle nach Süssau, vorbei an den „alten“ Urlaubshochburgen: Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Grömitz. Betonparadiese, typischer 70er-Jahre-Charme, und der hat wenig Lockendes. Unterwegs gleite ich an einem teuren Wakeboard vorbei, das im Wasser liegt und offensichtlich dem Besitzer erst kürzlich abhandengekommen ist.

Am zweiten Tag geht es zur Sache. Ziel ist Puttgarden. Die See ist aufgewühlt, der Wind liegt bei vier bis fünf Beaufort, das ist für so ein kleines Kajak die Schmerzgrenze. Es geht rauf und runter. Die Wellen kommen von der Seite, was ungünstig ist. Die erste hohe Welle ist nicht schlimm, die sieht man und kann sie berechnen. Schlimm ist das Wellental danach und das, was dann über einen zusammenbricht, die Wassermassen der Folgewelle, die dann das Boot überspülen. Und genau das passiert an der Steilküste Staberhuk vor Fehmarn. Ehe ich das Boot mit dem Bug in die Welle drehen kann, liege ich schon im Teich. Das Einsteigen bei diesem Seegang hat man gelernt, das ist mit der Leash am Fuß Ehrensache, aber es kostet Kraft, und es zeigt einem Grenzen auf.

Das große Ziel war es, den Fehmarnbelt zu überqueren. 18 Kilometer von Puttgarden bis nach Dänemark, durch die meistbefahrene Schifffahrtsrinne der Ostsee. Riesenfrachtschiffe fahren hier, Kriegsschiffe, Tanker der russischen Schattenflotte – es ist schon fast vermessen, sich hier mit einem Nichts von Nuckelpinne an all diesen Monstren vorbeizuschlängeln. „Denke ja nicht“, warnte mich ein Berliner Seglerfreund im Vorfeld, „dass die Pötte für dich halten, die sehen dich ja nicht einmal!“ Aber die Querung des Belts ist ohnehin nicht durchführbar, die Wetterprognosen stehen für den dritten Tag auf noch mehr Wind. Peaks bis sechs Beaufort, vereinzelt vielleicht sogar mehr, das wäre der Overkill. Plan B muss jetzt herhalten: Kajak aufs Auto, Auto auf die Fähre und rüber bis Rødbyhavn. Als Sportler wurmen solche Momente, weil eine Etappe nun unvollendet bleibt, unabgepaddelt, aber das ist immer noch besser, als ein reales Unglück heraufzubeschwören.
Eine Alternative könnte auch der Fehmarnbelttunnel sein. Aber der ist ein Bauwerk der Verzögerungen. Die Fertigstellung, die für 2024 geplant war, hat jetzt ein neues Datum bekommen: 2029. In Rødbyhavn bekommt man einen Eindruck von der Großbaustelle.
Von dort geht es weiter mit dem Kajak Richtung Osten in den idyllischen Fischerort Nysted. Traumversunken liegt die dänische Küste da. Es ist wie auf Bildern des Malers Peder Severin Krøyer (1851–1909). Im Sand spielende Kinder, flanierende Damen und Herren. Ein einsamer Leuchtturm, Hyllekrog Fyr, zieht vorbei. Dann eine Kuh, die, als sie mich und das Kajak erblickt, wie vom Blitz getroffen die Flucht ergreift. Und noch etwas ist anders. Gespenstisch gar. Am Rødsand, einer kilometerlangen Sandbank im Schatten eines gigantischen Windparks, liegen Dutzende Schwäne, die einen sind bereits gestorben, die anderen liegen zum Sterben bereit.
Sonnentage und schwimmen im Meer

Der vierte Tag dient der Regeneration. Statt der üblichen 40 bis 50 Kilometer werden heute die Muskeln geschont und nur 25 zurückgelegt. Eine Kegelrobbe im Guldborgsund taucht neben dem Kajak auf und verschwindet gleich wieder. Wenn man mit dem Kajak unterwegs ist, braucht es küstennahe Unterkünfte. Campingplätze bieten sich an. Spannend sind auch sogenannte Shelters: zu einer Seite offene Schutzhütten, in denen man mit Isomatte und Schlafsack pennen kann. Als Paddler kennt man aber auch eine andere Möglichkeit: Kajak- und Rudervereine. Das ist schon in Deutschland prima organisiert, die Gastfreundschaft und sportliche Unterstützung der Dänen aber ist, wie das Beispiel des hypermodernen Kajakclubs in Nykøbing zeigt, sensationell.
Die Strecken werden länger, verschlungener, origineller. Nördlich von Falster im Storstrømmen zeigen sich Inseln in größerer Zahl, und das Wasser reizt mit opalfarbenen Tönen. Nicht umsonst wird die Gegend auch „Dänische Südsee“ genannt. Aber diese Südsee hat ihre Launen, wird ungemütlich. In Höhe der neuen, noch im Bau befindlichen Storstrømsbroen knallen mir Wind und Regen ins Gesicht, Wellen schlagen aufs Vorschiff, und die einstündige Überfahrt ans Nordufer bei Vordingborg gerät zum Hasardspiel.

Nach dem Unwettertag folgen angenehmste Sonnentage mit einigen Schwimmeinlagen im Meer. Der Weg nach Kopenhagen ist geebnet und gesäumt von landschaftlichen Highlights. Da ist zum einen die Insel Møn mit ihrer überragenden Küste. Eine scheue Robbenkolonie bei Bønsvig. Und dann die Kalk- und Kreidefelsen Stevns Klint. Mit 15 Kilometern sind sie länger als die Kreideküste Rügens, wenn auch nicht ganz so mächtig. Vom Wasser aus aber ein Spektakel. Eins, das Fragen aufwirft. Was haben all die Holzleitern an den steil abfallenden Kreidehängen zu bedeuten, die so imposant im Nichts auslaufen? Darauf haben selbst Ortsansässige keine Antwort parat. Scharf an der Kliffkante fällt noch die Højerup Gamle Kirke auf. Das Gotteshaus wurde Opfer der Erosion, verlor seinen Chor an die Natur. Das ist zwar schon fast 100 Jahre her, aber das Thema Erosion und Klimawandel ist auf der gesamten Kajaktour präsent. Aufwendige Küstenschutzmaßnahmen an vielen Orten, da der Mensch zu dicht am Meer baut, wie in Süssau, wo die Sturmflut 2023 viele Häuser wegriss und nun hässliche Steindämme eine trügerische Sicherheit vorgaukeln.
Das Wasser leuchtet ganz klar

Die Hauptstadt Dänemarks liegt in Schlagdistanz. In der weitläufigen Køge Bugt bauen Katja und ich ein letztes Mal das Zelt auf. Wir liegen im Zeitplan. Es ist der achte Tag. Der beginnt mit stärkeren Winden. Und der Warnung eines Hafenmeisters: „Nehmen Sie sich vor den Strudel- und Sogwirkungen vor dem Heizkraftwerk nahe Brøndby in Acht, die haben schon so manches Boot zum Kentern gebracht!“ Ich weiß nicht, was mir mehr zu schaffen macht, die behaupteten Sogwirkungen oder die Schaukelpartie durchs Kabbelwasser. Dazu die Rotoren dreier Riesenwindräder, die etwas Bedrohliches haben. Letzte Konzentration. Hier möchte man auf gar keinen Fall umkippen.
Geschafft! Kalvebodbroen, das Tor nach Kopenhagen. Von jetzt an ist alles ein Kinderspiel. Nur noch elf Kilometer bis zur Kleinen Meerjungfrau und zwölf bis zum Trekroner, dem erklärten Ziel. Danach ins Hotel, ausgiebiges Duschen, eine Massage und ein gutes Restaurant!

„Nach Venedig ist Kopenhagen die geniale Wasserstadt“, merkt Katja vom Rad aus euphorisch an, als wir uns am Ufer der Innenstadt zu einer Fotosession treffen. In der Tat. So viel Lebenskomfort durch ein ausgeklügeltes Architekturprinzip, das ist selten. Wohnhäuser, unmittelbar an Kanäle gebaut, mit Abstellzonen für Kajaks, SUPs und anderem Bootsgerät. Schließlich die Hafenbäder, ein Traum für jeden Schwimmer, dazu kostenlos nutzbar. Und dann die enorme Wasserqualität. Es gibt Stellen, die sind so klar und leuchtend wie an einem Korallenriff.
Und der Ideenreichtum der Dänen kennt keine Grenzen. Der Blick geht vom Hafen auf das monumentale Kraftwerk Amager Bakke. Gemeinhin sind Kraftwerke keiner Erwähnung wert. Bei diesem Kraftwerk ist es anders, denn es ist als Multifunktionsbau in Form eines monumentalen Berges konzipiert. Die abgeschrägten Dächer der 80 Meter hohen Anlage dienen sommers wie winters als Skipiste.
Die letzten Paddelschläge stehen an. Von der weltbekannten Bronzefigur der Meerjungfrau geht es per Diagonale rüber zum Trekroner Fort. Die historische Festung bildet den nördlichsten Punkt der Wasserstraßen Kopenhagens. Und sie spielt eine zentrale Rolle im Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny. Und Langsamkeit, jede Menge davon, das ist genau das, was auch ich mir jetzt verabreiche.