Mit dem Nato-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 wollten die westlichen Bündnispartner der Bedrohung Europas durch sowjetische Mittelstreckenraketen begegnen. Ein ähnliches Szenario könnte die für 2026 geplante Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland als Antwort auf die russischen „Oreschniks“ heraufbeschwören.
Kaum anzunehmen, dass sich die Außen- und Verteidigungsminister der Nato-Staaten der gravierenden gesellschaftspolitischen Folgen ihres am 12. Dezember 1979 in Brüssel verabschiedeten sogenannten Nato-Doppelbeschlusses bewusst waren. Denn dieser sah die Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen in fünf europäischen Staaten mit Schwerpunkt auf der Bundesrepublik für den Fall vor, dass die geplanten Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion über den Abbau der auf Westeuropa gerichteten hochmodernen SS-20-Raketen mit einer Reichweite von 5.000 Kilometern nach vier Jahren zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis kommen sollten.
Obwohl der Nato-Doppelbeschluss daher eine Rüstungskontrolle auf dem Verhandlungsweg durchaus vorsah, war die zwangsläufige europäische Aufrüstung der Nato im Bereich der Mittelstreckenwaffen im Falle eines Scheiterns der Gespräche zwischen den USA und der Sowjetunion einem Großteil der Bürger in den westlichen Staaten kaum vermittelbar. Diese hatten sich längst auf eine fortschreitende Entspannung im Kalten Krieg eingestellt. Die im Juli 1975 unterzeichnete Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wurde als bisheriger Höhepunkt der Entspannung zwischen Ost und West angesehen.
Allerdings wurde dabei übersehen, dass in der KSZE-Schlussakte zwar ein Bekenntnis zur Unverletzlichkeit der Grenzen und der friedlichen Regelung von Streitfällen enthalten war, aber keinerlei Bestimmungen bezüglich einer Rüstungskontrolle. Zur Beruhigung der weltweiten Öffentlichkeit trugen dennoch fraglos die zwischen 1969 und 1979 laufenden erfolgreichen SALT-Verhandlungen (Strategic Arms Limitation Talks) zwischen den beiden Supermächten bei, mit Schwerpunkt auf einer Begrenzung der land- und seegestützten Interkontinentalraketen.
Die Menschen hatten große Angst vor nuklearem Krieg
Allerdings gab es eine besonders für die westeuropäischen Sicherheitsüberlegungen überaus bedeutsame Waffengattung, für die international keinerlei vertragliche Festlegungen vorhanden waren: die sogenannten Kurz- und Mittelstrecken-Systeme. Wenig überraschend daher, dass sowohl die USA als auch die Sowjetunion ihre Rüstungsanstrengungen seit 1969/1970 genau auf dieses Waffensegment konzentrierten. Die USA arbeiteten an der Entwicklung der Pershing-II-Rakete und der Cruise-Missiles-Marschflugkörper, die Sowjetunion an einer zielgenauen und mit mehreren Sprengköpfen ausgestatteten SS-20, die die älteren atomaren Mittelstreckenwaffen SS-4 und SS-5 ersetzen sollte.
Bei diesem Rüstungswettlauf hatte die Sowjetunion einen erheblichen Vorsprung vor den USA und stationierte bereits 1976 die ersten SS-20 auf dem Territorium der Staaten des Warschauer Pakts. Renommierte Militärhistoriker wie der an der Universität Mannheim lehrende Oliver Bange gehen davon aus, dass die Sowjetunion damals einfach schneller als die USA war und die SS-20 daher prophylaktisch der anstehenden Einführung der US-Systeme vorgeschaltet hatte. Daraus ließ sich eine große Bedrohung für Westeuropa ableiten, weil die Nato diesen neuen sowjetischen Mittelstreckenwaffen noch keinerlei vergleichbare Systeme entgegenstellen konnte.
Im Rahmen des westlichen Verteidigungsbündnisses war es vor allem Bundeskanzler Helmut Schmidt, der die Nato-Partner zum Handeln drängte. In seiner berühmten Londoner Rede vor dem „International Institute for Strategic Studies“ am 28. Oktober 1977 hatte er auf die aus seiner Sicht gravierende Sicherheitslücke im westlichen Eskalationskontinuum der gestuften Antwort auf militärische Aggressionen im Sinne des Nato-Konzepts der „flexible response“ hingewiesen. Da weitreichende Mittelstreckenraketen bei den SALT-Verhandlungen ausgespart worden seien, gäbe es bei diesen Systemen im Rahmen der globalen Abschreckung eine „Grauzone“, die speziell für Europa ein großes Problem darstelle. Dieses könne nur durch Nachrüstung mit neuen US-Raketen oder durch entsprechende Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion gelöst werden, argumentierte Schmidt.
Im Wesentlichen wurden Schmidts Anregungen im Nato-Doppelbeschluss aufgegriffen. Dieser löste trotz der in Genf ab November 1981 begonnenen Aufnahme von bilateralen Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion in der Bundesrepublik die größte Bürgerprotest-Bewegung der Geschichte aus. Auch in vielen anderen westlichen Ländern sowie in einigen Ostblock-Staaten wie der DDR brachte der Doppelbeschluss die Menschen zu Friedenskundgebungen auf die Straßen – aus Angst vor einer durch die befürchtete Nato-Aufrüstung an die Wand gemalten atomaren Apokalypse. Den „Krefelder Appell“, in dem die Bundesregierung zur Rücknahme ihrer Zustimmung zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen aufgefordert wurde, unterschrieben von November 1980 bis Ende 1983 insgesamt vier Millionen Bundesbürger. Im Bonner Hofgarten fanden sich am 10. Oktober 1981 gut 300.000 Menschen zur historisch größten Kundgebung der Bundesrepublik ein. Am 22. Oktober 1983 demonstrierten mehr als eine Million Deutsche quer durchs Land auf Veranstaltungen, Friedensmärschen und mit einer Menschenkette aus rund 200.000 Teilnehmern zwischen Neu-Ulm und Stuttgart.
Die im Januar 1980 gegründete Partei der Grünen wurde rund um die charismatische Petra Kelly zur parlamentarischen Plattform für die Friedensbewegung, drei Jahre später gelang den Grünen der Einzug in den Bundestag als vierte politische Kraft. Bundeskanzler Helmut Schmidt verlor wegen seines eisernen Festhaltens am Nato-Doppelbeschluss nicht nur das Vertrauen der SPD-Parteibasis, sondern auch prominente Genossen wie Willy Brandt, Erhard Eppler oder Oskar Lafontaine rückten von ihm ab. Am 1. Oktober 1982 wurde er durch das erste gelungene konstruktive Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik gestürzt und durch Helmut Kohl ersetzt. Wobei die FDP den Abschied von der sozialliberalen Koalition und den Wechsel an die Seite der CDU/CSU nicht wegen Schmidts Position zum Nato-Doppelbeschluss, sondern wegen unterschiedlicher Auffassungen bezüglich der Wirtschafts- und Finanzpolitik vollzogen hatte. Denn Bundeskanzler Helmut Kohl und FDP-Außenminister Hans-Dietrich Genscher blieben in Sachen Nato-Doppelbeschluss Schmidts Linie treu.
INF-Vertrag war ein Meilenstein
Nachdem schon im Frühjahr 1983 absehbar war, dass die von beiden Supermächten nur halbherzig geführten Genfer Abrüstungsverhandlungen ergebnislos verlaufen würden, konnten Union und FDP am 22. November 1983 im Bundestag die Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland durchsetzen. Einen Tag später brach die Sowjetunion die Genfer Verhandlungen endgültig ab. Wenig später begann die Aufstellung der US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik, in Belgien, Großbritannien und Italien. Alle 108 Pershing-II-Raketen, die zwar nur eine kurze Reichweite von rund 1.800 Kilometern hatten, dafür aber ihre potenziellen Ziele im Westen der Sowjetunion in fünf bis sechs Minuten erreichen konnten, wurden bis 1986 allein in Baden-Württemberg auf mobilen Abschussrampen montiert.
Dank eines gigantischen Aufrüstungsprogramms, bei dem zwischen 1981 und 1986 mehr als eine Billion Dollar in das Verteidigungsbudget investiert wurden, konnte US-Präsident Ronald Reagan die wirtschaftlich schwächelnde Sowjetunion aus einer Position der Stärke heraus wieder zur Verhandlung über Mittelstreckenwaffen zwingen. Der Amtsantritt von Michail Gorbatschow und dessen „Perestroika“-Politik spielten ihm zusätzlich in die Karten. Mit der Unterzeichnung des INF-Vertrages (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) am 8. Dezember 1987 hatten die beiden Supermächte die Vernichtung aller bodengestützten Nuklearraketen mit mittlerer bis kürzerer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern beschlossen – und damit eine gesamte Waffenkategorie beseitigt.
Der INF-Vertrag war ein Meilenstein auf dem Weg zur Beendigung des Kalten Krieges. Seine Laufzeit war unbeschränkt, allerdings wurde beiden Partnern das Recht zu einer Aufkündigung zugestanden. Was die USA unter Präsident Donald Trump im Februar 2019 dann auch taten, weil sie schon seit 2008 Hinweise dafür gesammelt hatten, dass Russland gegen die Vertragsbestimmungen verstoßen hatte. Wenig später kündigte auch der Kreml den INF-Vertrag auf. Seitdem hat ein neues Wettrüsten der beiden Supermächte bei den landgestützten atomaren Mittelstreckenwaffen eingesetzt.
Aufrüstung beginnt gerade von Neuem
Russland hat gerade erst im Ukraine-Krieg erstmals seine mit Hyperschall fliegende Rakete „Oreschnik“ getestet und wird diese laut Präsident Putin künftig in Massenproduktion fertigen. Die USA haben in einem bilateralen Vertrag mit der Bundesrepublik die „zeitweise“ Aufstellung von gleich drei Waffensystemen unterschiedlicher Reichweite in Deutschland ab 2026 zugesagt. Dabei soll es sich um Tomahawk-Marschflugkörper und SM-6-Mehrzweckraketen handeln – sowie um die neue US-Hyperschallwaffe Dark Eagle, die mit fünffacher Schallgeschwindigkeit mehr als 2.500 Kilometer zurücklegen kann.