Mit 51 wird Alexander Blessin zum Bundesliga-Trainer. Dafür verzichtet er sogar auf die Teilnahme an der europäischen Königsklasse.
Eine Karriere als Trainer verläuft meist nicht stromlinienförmig. Diese Erfahrung musste auch Alexander Blessin machen. Seit zwölf Jahren ist der als Stürmer lange Jahre in Baden-Württemberg verwurzelte Stuttgarter, der für die Stuttgarter Kickers einst 45 Zweitliga-Spiele absolvierte, schon Trainer. Den Schein als Fußball-Lehrer machte er 2016 gemeinsam mit dem heutigen Bundestrainer Julian Nagelsmann und dem belgischen Nationalcoach Domenico Tedesco. Nun ist er in der Bundesliga angekommen. Und hat darauf offenbar so viel Lust, dass er gerade eine Champions-League-Teilnahme für das Amt bei einem Bundesliga-Aufsteiger eintauschte. Und scheint doch am Ziel. Denn obwohl Blessin vom ersten Tag an als verheißungsvoller Trainer galt, musste er einige Umwege gehen, um nun beim FC St. Pauli im deutschen Oberhaus anzukommen.
Umwege auf dem Weg zur Bundesliga
Direkt nach dem Karriere-Ende als Spieler wurde Blessin mit 39 Nachwuchs-Coach bei RB Leipzig und arbeitete sich dort langsam hoch. Vom Co-Trainer der U17 zum Chef, dann zum Trainer der U19. Acht Jahre bildete er bei den Sachsen Talente aus, ehe er Senioren-Teams als Cheftrainer übernehmen wollte. Dieser Weg führte ihn zunächst nach Belgien zum KV Ostende. Und dort wurde er gleich nach der ersten Saison als „Trainer des Jahres“ geehrt. Schließlich hatte er den im Vorjahr nur knapp dem Abstieg entgangenen Club fast in den Europacup geführt. Im Januar 2022 wechselte er in die Serie A und übernahm den abstiegsbedrohten CFC Genua. Blessin begann mit einer ungewöhnlichen Serie von sieben Unentschieden zum Auftakt, unter anderem bei der AS Rom und Atalanta Bergamo sowie gegen Inter Mailand. Den Abstieg verhinderte er nicht, durfte aber mit in die Serie B, ehe sich der Club, im Dezember auf Rang fünf liegend, doch von ihm trennte. Zur neuen Saison kehrte Blessin dann wieder nach Belgien zurück und übernahm Royal Union Saint-Gilloise aus Brüssel. Nach dem klaren Gewinn der Hauptrunde verpasste Saint-Gilloise in der Meisterrunde um einen Punkt den Titel, schaffte aber die erstmalige Qualifikation für die Champions League und holte zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte den Pokal. Blessin wurde gefeiert.
Und dann ging plötzlich die Tür nach St. Pauli auf. Shootingstar Fabian Hürzeler hatte die Hamburger zum Meistertitel und nach 13 Jahren zurück in die Bundesliga geführt. Und obwohl er Anfang März seinen Vertrag nach langem und zähen Ringen offenbar ohne Klausel und wohl bis 2026 verlängert hatte, folgte er nach dem Aufstieg dem Ruf von Brighton and Hove Albion aus der englischen Premier League. Er habe „viel Verständnis für die Enttäuschung der Fans“, sagte Hürzeler der „Sport Bild“. Bei der Meister- und Aufstiegsfeier sei er noch „zu 1.000 Prozent davon ausgegangen, dass ich zum Trainingsstart an der Kollaustraße bin“. Die Entscheidung für Brighton sei jedenfalls keine Entscheidung gegen Pauli gewesen. „Der Club hat mir viel gegeben, ich genauso St. Pauli. Nun bekommt der Verein für mich eine Rekord-Ablösesumme, die wieder gut investiert werden kann.“
Einen Teil davon, angeblich bis zu einer Million Euro, ging an Saint-Gilloise für Blessin. 20 Jahre älter, aber auch Bundesliga-Debütant. Mit einer eben schon spannenden Trainer-Vita. Einen „international erfahrenen Trainer“ mit „viel taktischem Wissen“ habe er da holen können, sagte Sportchef Andreas Bornemann: „Alex hat nahezu alle Anforderungen erfüllt. Wir sind sehr froh, dass es möglich wurde.“ Vor allem zwei aus Pauli-Sicht wichtige Komponenten erfüllte er: „Er hat in Belgien sowie Italien bereits in der höchsten Spielklasse sowie international gearbeitet“, sagte Bornemann: „Aus seiner Zeit in Leipzig weiß er aber ebenfalls sehr genau, wie Nachwuchsspieler an den Herrenbereich herangeführt werden sollten.“
„War jetzt einfach der richtige Punkt“
Doch warum hat Blessin den Aufsteiger der Champions League vorgezogen? „In den ersten Gesprächen war es Neugier“, sagte er: „Je mehr wir darüber geredet haben, desto interessanter wurde es. Wir haben in vielen Sachen eine klare Überschneidung, die zu meinem Spiel passt.“ Zudem habe ihm Bornemann „ein Video gezeigt, vom Stadion, von der Atmosphäre. Bei Union ist es ein kleineres Stadion, ein super Stadion mit absolut viel Flair. Ich liebe es einfach, dort ins Stadion zu kommen und die Stadion-Wurst zu riechen. Genau diese Atmosphäre haben wir hier, nur halt größer.“ Dabei habe er nicht um jeden Preis in die Bundesliga gewollt. „Es war nie der Plan, ich muss irgendwann nach Deutschland zurück und dort in der Bundesliga trainieren“, beteuerte Blessin: „Es war jetzt einfach der richtige Punkt, an dem ich gemerkt habe, dieses Thema St. Pauli reizt mich ungemein. Ich habe mit meiner Familie darüber gesprochen und gesagt: Das ist eine Chance, die will ich einfach nutzen. Da habe ich wahnsinnig Lust darauf.“
Der Verein habe auf jeden Fall „eine unglaubliche Strahlkraft“, sagte er: „Das ist ein neues Chapter für mich und ich denke, es matcht gut.“ Klar sei mit Blick auf Hürzeler: „Fabian hat hier tolle Arbeit geleistet. Aber ich bin kein Fabian 2.0, ich bin Alex Blessin.“ Doch er kündigte an, auch in der Bundesliga an aktiver Spielweise festhalten zu wollen: „Ich habe keine Angst vor jeglichen Namen. Wir wollen die Facette, mutig zu sein, beibehalten. Wir wollen mit Geschlossenheit im Team und im gesamten Verein diese Herausforderung beherzt angehen. Ich freue mich unglaublich darauf, am Millerntor die ganz großen Clubs der Bundesliga herauszufordern.“ Und damit am Ende die Klasse halten. „Kein Abenteuer“ solle die Bundesliga für den Kiez-Club sein, sagte Blessin. Während der große HSV immer noch in der 2. Liga feststeckt, hat sich Pauli erst mal zur sportlichen Nummer eins in Hamburg aufgeschwungen. Dieser Status soll nun gefestigt werden.
Dafür zieht Blessin nun von Brüssel nach Hamburg. Die Familie, seine Frau und die drei Kinder, wohnen weiter in Stuttgart. Doch es ist eine schwierige Situation. Im vergangenen Herbst erkrankte Blessins Ehefrau Charlotte schwer, sitzt seitdem teilweise im Rollstuhl. Im „Kicker“ bestätigte der Coach, dass er damals über einen Rücktritt nachgedacht habe: „Ja, es gab Gespräche mit dem Verein. Dort hat man mich sehr unterstützt, ich konnte einige Male pausieren und heimfahren. Sie hatte einen Rückenmarksinfarkt, und neurologische Dinge brauchen leider Zeit. Meine Frau ist meine Heldin und wollte auch, dass ich weitermache. Solange sie das alles so stemmen kann, bin ich Trainer. Ansonsten geht die Gesundheit der Familie immer vor.“
Menschlich ganz besonders
Die Situation habe letztlich sogar für St. Pauli gesprochen, schrieben Medien. Habe er von Brüssel sechs Stunden mit dem Auto nach Hause gebraucht – und sei das trotzdem zuletzt mehrfach die Woche gefahren – sei er nun in einer Flugstunde in Stuttgart. In Hamburg will er auf jeden Fall auch eine Wohnung als festen Anlaufpunkt. „Ich mag das Hotelleben nicht. Ich brauche meine vier Wände, in die ich mich zurückziehen kann.“ Die Fans in Brüssel verabschiedeten die Blessins mit einem rührenden Plakat: „Behind every man there is a strong woman“, stand dort geschrieben, „hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau.“ Und dann auf Deutsch: „Danke Charlotte. Danke Alexander“.
Überhaupt sei der Coach menschlich ganz besonders, sagen eigentlich alle, die ihn ein Stück seines Weges begleitet haben. Schon bei seiner Vorstellung waren viele von seiner Art begeistert. Die „Taz“ schrieb, während Hürzeler immer „mit inneren Abstandshaltern versehen“ gewesen sei, sei Blessin gleich wie das genaue Gegenteil dahergekommen: „Für den Moment wirkte er eher wie der freundliche Nachbar, bei dem man sich gern einen Hammer leiht oder ein paar Eier.“ Er habe die erste Pressekonferenz „mit ein paar Witzchen gewürzt, er wirkte zugewandt, interessiert und warb auch für sich in eigener Sache“.
Kuriose Randnote: In Hamburg wird Blessin Chef von Co-Trainer Peter Nemeth, der bereits seit 2022 da ist. Der war von 2006 bis 2008 bei den Sportfreunden Siegen erst Blessins Mannschaftskollege, dann Co-Trainer und schließlich für sechs Spiele sogar sein Trainer. Nun ist Blessin der Boss. „Das Gute ist, der Fußball ist manchmal so klein“, sagte dieser lachend. So verworren die Wege im Profi-Fußball auch scheinen, manche führen am Ende immer wieder zusammen.