Als der vor 80 Jahren verstorbene Wassily Kandinsky 1911 mit Franz Marc die lockere Künstlergruppe „Blauer Reiter“ gründete, hatte er sich stilistisch schon weit vom Expressionismus verabschiedet und den Pfad zur damals revolutionären und kaum akzeptierten abstrakten Kunst eingeschlagen.
Sie hatten sich nie kennengelernt und hatten doch mit zwei grundverschiedenen Ansätzen etwa zeitgleich den kunsthistorisch revolutionären Pfad zur abstrakten Malerei gewählt. Bei der einen handelte es sich um die lange in Vergessenheit geratene schwedische Malerin Hilma af Klint, die schon 1906 kleinformatige Kunstwerke mit abstrakten Ornamenten in poppigen Farben wie Orange oder Rosa geschaffen hatte. Ihre Abwendung von der naturalistischen Darstellung verdankte sie der intensiven Beschäftigung mit der damals populären Theosophie, und sie ließ sich durch spiritistische Séancen mit ihr selbst als „Werkzeug der Ekstase“, wie sie es beschrieb, zur Verwandlung alles Gegenständlichen in Farbe inspirieren. Beim anderen handelte es sich um den gebürtigen Moskauer und künstlerisch Spätberufenen Wassily Kandinsky, der sich erst im Alter von rund 30 Jahren der Malerei und Grafik verschrieb und dessen Werk zeitlebens niemals gebührende Anerkennung fand. Erst mit dem Siegeszug abstrakter Malerei in den 1950er- und 1960er-Jahren wurden er und sein Werk weltweit populär.
Kandinsky selbst legte größten Wert darauf, als Begründer dieser zukunftsweisenden Kunstrichtung angesehen zu werden. Sein in leuchtenden Farben mit Strichen, Kringeln und Klecksen gehaltenes Aquarell „Ohne Titel“ galt denn auch bis vor wenigen Jahren als erstes abstraktes Bild. Die Forschung vermutet, dass Kandinsky bei dessen Datierung etwas geschummelt hat, um Kollegen wie Kasimir Malewitsch oder František Kupka zeitlich in die Schranken zu weisen.
Hilma af Klint schied als Konkurrentin aus, weil sie ihre abstrakten Schöpfungen – darunter auch der Monumental-Zyklus „Die Zehn Größten“ von 1907 – viele Jahrzehnte lang unter Verschluss hielt.
Seltene Gabe der Synästhesie
Viel spricht dafür, dass Kandinsky das Aquarell nachträglich auf das Jahr 1910 datiert hat. Tatsächlich entstand es aber erst 1913 als Vorstudie seiner einen Wirbelsturm von Farben und Formen aufweisenden „Komposition VII“. Dann allerdings könnte es kein Vorentwurf mehr sein zu seinem ebenso weltbekannten, nach dem Besuch eines Münchner Konzerts mit Werken Arnold Schönbergs 1911 entstandenen Bild „Impression III“. Bei diesem handelt es sich noch nicht um ein abstraktes, sondern eher um ein abstrahierendes Werk in Gelb und Schwarz. Hier ist das Figürliche noch nicht ganz verschwunden, sondern gewissermaßen verwischt. Dennoch wurde es dank zahlloser Reproduktionen laut „Tagesspiegel“ „zum Inbegriff der ungegenständlichen Malerei“.
Das Bild ist außerdem ein Paradebeispiel für Kandinskys seltene Gabe der Synästhesie, bei der sich verschiedene Sinneseindrücke zu einer Wahrnehmung vermischen. Diese hatte er erstmals bei der Aufführung von Wagners Oper „Lohengrin“ in Moskau 1895 bei sich festgestellt. Er konnte die Klänge nicht nur hören, sondern auch sehen und in Farben visualisieren. Bei seinem künstlerischen Schaffen sollte er später von „Farbklängen“ sprechen, weil er die Töne auf der Leinwand nicht nur optisch wahrnehmen, sondern auch hören konnte.
Bei seiner Arbeit empfand er eine besondere Affinität zum musikalischen Komponieren, was sich oft auch in den Titeln seiner Werke als „Impressionen“, „Improvisationen“ oder „Kompositionen“ niederschlug. Die Musik spielte für ihn als Vorbild ohnehin eine ganz zentrale Rolle bei der Hinwendung zur abstrakten Malerei. Sie stellte für ihn die transzendente Form der gegenstandslosen Kunst dar. Allein mit ihren Klängen konnte sie Bilder im Kopf des Zuhörers hervorrufen. Etwas der abstrakten musikalischen Kompositionsweise Vergleichbares wollte Kandinsky mit seiner Kunst schaffen.
Durch Farbe und Form wollte er die Seele des Betrachters zum Klingen bringen. Seine Malerei wurde durch das Bemühen um die Darstellung des Spirituellen bestimmt. Seine gegenstandslose Kunst läutete die „Epoche des großen Geistigen“ ein und vermittelt dabei die Tiefe menschlicher Emotionen durch eine universelle Bildsprache aus abstrakten Formen und Farben. Mit seinen Werken wollte er auf Basis esoterischer und theosophischer Vorlieben seelische Vorgänge gleichsam durch die Malerei visualisieren. Dieses Konzept hielt er in seiner 1911 erschienenen kulturhistorischen Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ fest, die als das Manifest der Abstrakten Malerei und als die wohl einflussreichste Künstlerpublikation des 20. Jahrhunderts angesehen werden kann.
Darin beschreibt er den Künstler als geistiges Wesen, dessen formschaffender Antrieb allein aus der „inneren Notwendigkeit“ entspringen sollte. „Kandinsky ist einer der großen Väter der Abstraktion“, sagt die renommierte deutsche Kunsthistorikerin Annegret Hoberg. „Mit ihm kam sozusagen das Streben in die Kunst, etwas Geistiges in der bildenden Kunst zum Ausdruck zu bringen, also eine spirituelle Dimension, die in irgendeiner Weise sichtbar werden soll. Das war ein Paradigmenwechsel in der Kunst, etwas, was das ganze 20. Jahrhundert geprägt hat.“
Lange Suche nach dem eigenen Stil
Wassily Kandinsky wurde am 16. Dezember 1866 als Sohn eines wohlhabenden Teehändlers in Moskau geboren. Der Vater ermöglichte ihm schon früh privaten Zeichenunterricht, ab dem achten Lebensjahr lernte er zudem Klavier- und Cellospielen. Nach der Trennung der Eltern wuchs Kandinsky bei einer Tante in Odessa auf, wo er sich während der Gymnasialzeit seinen ersten Malkasten zulegte. Nach dem Abitur 1885 begann er das Studium der Rechtswissenschaften, der Nationalökonomie und Ethnologie an der Moskauer Lomonossow-Universität. 1892 legte er das juristische Staatsexamen ab und heiratete eine Cousine. Obwohl ihm nach der Promotion viele juristische Türen offen standen, entschied er sich 1895 für den Job des künstlerischen Leiters einer Moskauer Druckerei. Nachdem er 1896 beim Besuch einer Moskauer Ausstellung von einem Gemälde Claude Monets geradezu fasziniert war, fasste er den Entschluss, sich seinen lange schon heimlich gehegten Wunsch eines Künstlerdaseins zu erfüllen.
Im Dezember 1896 machte er sich auf nach München. Dort absolvierte er seine Ausbildung an einer privaten Kunstschule und anschließend an der Münchner Kunstakademie unter Leitung von Franz von Stuck. Danach wurde er Präsident einer Künstlervereinigung namens „Phalanx“, in deren angegliederter Malschule er eine Lehrtätigkeit aufnahm und dabei seine langjährige Muse und Lebensgefährtin Gabriele Münter kennenlernte, die in der heutigen Kunstwelt als Expressionistin hoch geschätzt wird. Seinen eigenen Stil hatte er noch nicht gefunden, er wandelte zwischen Spätimpressionismus und Expressionismus, wofür sein Gemälde „Der Blaue Reiter“ aus dem Jahr 1903 ein gutes Beispiel ist.
Ab 1939 bis zum Tod in Frankreich
Ein Aufenthalt in Murnau an der Seite von Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin 1908 führte Kandinsky zu einer expressiv-abstrahierenden Naturwiedergabe, wofür das Gemälde „Der Blaue Berg“ mit fauvistischen Einflüssen stehen kann. Nebenbei wandte sich Kandinsky auch der Literatur zu und veröffentlichte 1912 den Gedichtband „Klänge“ mit deutlichen Dadaismus-Anleihen. Nach Gründung der „Neuen Künstlervereinigung München“ 1909 als Sammelbecken avantgardistischer Tendenzen gründete Kandinsky mit Franz Marc 1911 den „Blauen Reiter“, der nicht nur Ausstellungen organisierte, sondern 1912 auch einen Almanach publizierte. Nach Kriegsausbruch musste Kandinsky Deutschland verlassen, trennte sich von Gabriele Münter, kehrte nach Russland zurück und ging eine zweite Ehe mit Nina Andreevskaja ein. Nachdem die Sowjets ihn zunächst hofiert und mit wichtigen kulturellen Posten bedacht hatten, kam es bald wegen der zunehmenden Einschränkung der Kunstfreiheit im Zuge der Revolution zu Problemen, die sich für Kandinsky noch verschärften, als er auch noch sein Vermögen verlor.
Daher kehrte er nach Deutschland zurück und nahm eine Lehrtätigkeit am Bauhaus in Weimar und später auch in Dessau auf, wo er 1928 die deutsche Staatsbürgerschaft erwarb. In dieser Zeit tauchten in seinen abstrakten Kunstwerken immer mehr geometrische Strukturen und Figuren auf. Er bevorzugte vor allem Kreise, wofür das Bild „Einige Kreise“ aus dem Jahr 1926 ein besonders gutes Beispiel darstellt. Nach Auflösung des Bauhauses durch die Nazis, die später die Werke des Künstlers aus deutschen Museen entfernen ließen und 14 davon in der Ausstellung „Entartete Kunst“ präsentierten, zog es Kandinsky mit Ehefrau Nina schließlich nach Frankreich. Dort ließ er sich bis zu seinem Lebensende und ab 1939 im Besitz der französischen Staatsbürgerschaft in Neuilly-sur-Seine nieder.
Bis zu seinem Tod mit 78 Jahren am 13. Dezember 1944 infolge eines Hirnschlags arbeitete er unermüdlich in seinem Atelier. Wobei er mit seinem abstrakten Spätwerk gegen Surrealismus und Kubismus bei Publikum und Sammlern keine Chance hatte – mit Ausnahme von Solomon R. Guggenheim. Dennoch wandelte Kandinsky seinen Stil nochmals ab und ersetzte dabei die strengen geometrischen Strukturen durch verspielt-biomorphe Formen.