In acht spannenden Folgen zeichnet die großartig inszenierte und hochkarätig besetzte Serie „Dopesick“ eine Chronologie der verheerenden Schmerzmittel-Epidemie nach, die seit über zwei Jahrzehnten in den USA tobt. Unbedingt sehenswert!
Wer von einer Opioid-Krise hört, denkt wohl eher an kolumbianische Drogenkartelle als an amerikanische Arztpraxen, die Patienten legal Tabletten verschreiben. Anders als im Deutschen gibt es im Englischen keinen Unterschied zwischen Drogen und Medikamenten, beides sind „drugs“. Der Begriff „Droge“ entstammt dem mittelniederdeutschen „Dröge“, im 17. Jahrhundert eine Bezeichnung für Trockenware. Die Serie „Dopesick“ ist jedoch alles andere als dröge.
An einem Samstagabend im Februar 2019 schneit es Tausende Flugblätter von der Glaskuppel des New Yorker Guggenheim Museums herab. Die Zettel sind wie Arztrezepte designt. Demonstranten protestieren gegen Kulturstätten, die Spenden der Milliardärsfamilie Sackler entgegennehmen. Die Sacklers kontrollieren den Pharmariesen Purdue. Aus unermesslicher Profitgier haben sie mit unlauterer Werbung, aggressiven Tricks und mafiös anmutenden Methoden das Schmerzmittel Oxycontin in den Markt gepusht, Millionen Menschen in die Abhängigkeit und Hunderttausende in den Tod getrieben.
„Dopesick“, umgangssprachlich für Entzugsschmerzen, geht an Herz und Nieren und wirkt umso verstörender, wenn man sich bewusst wird, dass die Handlung größtenteils der Wirklichkeit entspricht. Drehbuchautor Danny Strong hat zwar eine fernsehgerecht fiktionalisierte Story mit einigen erfundenen Figuren kreiert, sich dabei aber an den von der Journalistin Beth Macy dokumentierten Fakten orientiert, deren Sachbuch „Dopesick“ der Serie zugrunde liegt.
Tolles Ensemble, eindrucksvolle Authentizität
Emotionales Herzstück der Handlung ist ein verwitweter Landarzt der alten Schule. In einer ärmlichen Bergarbeitergemeinde in den schroffen Appalachen West Virginias widmet sich Dr. Finnix (Michael Keaton) voller Hingabe seinen Patienten. Ein besonders inniges Verhältnis verbindet ihn mit Betsy (Kaitlyn Dever), die er von Geburt an kennt. Als die junge Grubenarbeiterin nach einem Unfall untertage starke Rückenschmerzen quälen, verschreibt er ihr in bester Absicht ein neues Medikament, das ihm ein pfiffiger Pharmavertreter aufgeschwatzt hat: Oxycontin ist doppelt so stark wie Morphin, weise aber ein extrem niedriges Suchtpotenzial auf und könne daher bedenkenlos verabreicht werden. Nach einer Rippenfraktur greift Dr. Finnix selbst zum angepriesenen Wundermittel – und kommt nicht mehr davon los. Die Suchtspirale dreht sich immer weiter, die Tragödie nimmt ihren Lauf. Durch Vor- und Rückblenden auf verschiedenen Handlungsebenen erfahren wir, wie skrupellos Purdue Pharma sich mit Oxycontin in menschenverachtender Manier schwerstabhängige Konsumenten heranzüchtet – ungeachtet aller bekannten Risiken und Nebenwirkungen.
An die vielen Zeitsprünge mag man sich gewöhnen müssen, aber aus diesem komplexen Geflecht multipler Perspektiven geht hervor, wie das Geschäft mit dem Schmerz funktioniert und wie Drogenvollzugsbeamte und Staatsanwälte unter hohem persönlichem Einsatz einen zermürbenden, aussichtslos scheinenden Kampf gegen die korrumpierte Arzneimittelbehörde und die übermächtige Pharmavorstandsetage führen. Dabei gelingt den Serienmachern die perfekte Balance zwischen Drogendrama, Milieustudie und Justizthriller. Fassungslos und wütend fühlt man sich an Filme wie „Erin Brockovich“, „Zivilprozess“ oder „Vergiftete Wahrheit“ erinnert, in der sich Alltagshelden in einem überforderten und unzulänglich ausgerüsteten Regulierungs- und Rechtssystem gegen moralisch bankrotte Profiteure stellen.
Das hervorragende Ensemble spielt mit eindrucksvoller Authentizität. Einzig die Figur des zynischen, machtversessenen Richard Sackler (Michael Stuhlbarg) wird auf pantomimenhaft heruntergezogene Mundwinkel reduziert und wirkt dadurch enttäuschend eindimensional.
Michael Keaton erhielt für seine Darstellung des Dr. Finnix übrigens den Screen Actors Guild Award. Den Preis widmete er seinem Neffen. Er war 2016 an einer Überdosis Fentanyl gestorben.