Berlin gilt neben Amsterdam oder Tübingen als die Fahrradstadt Europas. Nirgendwo wurden in den letzten 20 Jahren so viele Radwege gebaut wie in der Bundeshauptstadt. Doch wer in der beinahe Vier-Millionen-Metropole mit dem Rad unterwegs ist, braucht Übung.
Entspannt Radfahren geht in Berlin tatsächlich. Zum Beispiel am Samstag, Sonntag oder Feiertagen und dann morgens kurz nach Sonnenaufgang – im Sommer also so gegen 4.30 Uhr. Die Straßen sind leer, die Fahrradwege mal nicht zugeparkt und die wenigen Autofahrer, die da zur frühen Morgenstunde ihr Ziel erreichen wollen, sind ebenfalls entspannt.
Radrennvereine zum Beispiel nutzen diese Frühstunden an besagten Tagen gern zum Training. Doch wer im Alltag das Fahrrad als sein Hauptverkehrsmittel nutzt und dann in der Woche um kurz nach 7 startet, muss hellwach sein. Generell gilt: ein Radfahrer fährt, logischerweise, mit den Augen, aber vor allem mit den Ohren. Er muss zum einen abschätzen, was der Autofahrer vor ihm vorhat und, ob er die Vorfahrtsrechte, gerade beim Rechtsabbiegen, beachten wird. Viel wichtiger aber noch ist, was hinter ihm vorgeht. Wer nähert sich da gerade? Ganz abgesehen von Lkw und Bussen, die offenbar nach eigenen Gesetzen am Straßenverkehr teilzunehmen scheinen.
Lkw, Busse und andere Risiken
Rollt ein solcher 40-Tonnen-Koloss in nicht mal 30 Zentimetern Abstand am Radfahrer vorbei, sollte der Velo-Vertreter schon mal nach einer Ausweichmöglichkeit am rechten Fahrbahnrand Ausschau und vor allem die Nerven behalten. Alles reine Übungssache, wenn man lang genug mit dem Rad im Berliner Straßenverkehr unterwegs ist. Dabei gibt es inzwischen große Magistralen, die ein geübter Radfahrer komplett meidet. Wie zum Beispiel die Potsdamer Straße, eine Einfallstraße ins Berliner Regierungsviertel, wenn man vom Süden kommt.
Dort gibt es zwar einen Radweg, der bereits vor 40 Jahren angelegt und vom Bürgersteig abgezweigt wurde, doch die Einmündungen an den Kreuzungen sind abenteuerlich. Als Radfahrer kommt man vom Bürgersteig, den sich dort Fußgänger, Lieferanten und Radfahrer teilen, und landet an der Ampel wieder direkt im fließenden Straßenverkehr. Zwischen Radweg und Straße parken nicht nur Autos, sondern auch der Lieferverkehr in zweiter Reihe oder auf der Busspur. Ein Sichtkontakt aller Verkehrsteilnehmer ist damit unmöglich. Hat ein Radfahrer an der Ampel grün, fährt er unvermittelt in den Kreuzungsbereich. Dabei hilft es reichlich wenig, wenn man eigentlich fahrtberechtigt ist, die motorisierten Verkehrsteilnehmer einen aber nicht sehen, während sie rechts abbiegen wollen. Doch das sind die alten Radwege.
In den letzten vier Jahren hat sich gerade die rot-grün-rote Landesregierung auf die Fahnen geschrieben, den Fahrradverkehr weiter nach vorne zu bringen. Mit Beginn der Pandemie wurde die Idee der Pop-up-Radwege geboren. Also wurden die Straßen für den Fahrzeugverkehr eingeengt und farbliche Markierungen aufgebracht, die seitdem einen Fahrradweg anzeigen oder andeuten. Dabei wurden Busspuren, abgesehen davon, dass dort auch Taxis fahren dürfen, gern als Radwege genutzt. Doch dabei hatte niemand so richtig auf dem Schirm, dass auch der Lieferverkehr seine Berechtigung hat.
Für die Radfahrer heißt das wiederum, dass der von der Politik gefeierte neue Radweg nicht wirklich funktioniert. Jedenfalls nicht so, wie sich das der strampelnde Mobilitätsteilnehmer vorstellt. Entweder hält ein Bus direkt vor seiner Nase, weil plötzlich eine Haltestelle mitten auf dem vermeintlichen Radweg erscheint. Oder es werden Lieferwagen entladen. Oder aber ein Taxi parkt kurzzeitig vor einem, um einen Fahrgast aufzunehmen oder aussteigen zu lassen. Für den Radfahrer heißt das, er muss ausweichen und landet dann unversehens wieder mitten im pulsierenden Straßenverkehr. Eine Übung, mit der trainierte Dauer-Radfahrer gut klarkommen. Wer nicht so oft mit dem Rad unterwegs ist, kommt da aber schnell ins Schwitzen.
Fahrradstraßen für gute Mobilität
Daneben ist das Radkonzept der Berliner Landesregierung neue Wege gegangen. Und zwar weg von den Hauptverkehrsstraßen hin zu Lösungen, die quer durch die vielen Kieze der Stadt führen, also den Nebenstraßen. Die wurden zu Fahrradstraßen erklärt und sollen für eine bessere Velo-Mobilität sorgen. Sie bringen allerdings auch viel Ärger in den meist gutbürgerlichen Milieus mit sich. Denn es bedeutet, dass Parkplätze rechts und links des Straßenlandes weggekommen und dafür breite Radwege entstanden sind. Wie zum Beispiel in einem Kiez in Berlin-Friedenau, eine Altbausiedlung aus den 1890er-Jahren.
Hier wurde eine Ringstraße dem Verkehr in Teilen „entwidmet“, wie es so schön im Amtsdeutsch heißt. Autos dürfen hier nur noch auf einer Straßenseite und das auch nur begrenzt parken. Für Radfahrer ist das eine schöne Sache. Für die Anwohner dagegen eher eine Zumutung, weil sie nicht mehr wissen, wo sie ihre Autos parken sollen. Doch auch die Radfahrer sind nicht ganz glücklich mit dieser Lösung. Denn es gibt weiterhin kein Gesamtkonzept für die Fahrradstadt Berlin: Jeder der zwölf Bezirke macht sein eigenes Ding.
Das führt dazu, dass die Fahrradstraße im besagten Beispiel, mit absoluten Vorfahrtsrechten für Radfahrer, an der Bezirksgrenze von Schöneberg zu Wilmersdorf mittendrin endet und dann wieder der motorisierte Fahrzeugverkehr Vorfahrt hat, wohlgemerkt innerhalb eines Straßenzuges. Oder aber man landet direkt von der ausgewiesenen Fahrradstraße auf einem Radweg aus den 70er-Jahren, der wiederum auch in diesem Fall dem Bürgersteig abgezweigt wurde. Zum Verständnis: Das wäre so, als würde eine dreispurige Autobahn unvermittelt in eine Landstraße überführt werden, ohne weitere Vorwarnung.
Seit der Wende viel erreicht
Aufgrund der hohen Diebstahlszahlen empfiehlt es sich in Berlin außerdem, ein sehr hochwertiges Schloss dabeizuhaben. Ein Fahrradschloss in der höheren Güteklasse kostet mittlerweile zwischen 100 und 200 Euro, je nach Größe. Doch das Problem, wo man sein Fahrrad anschließen soll, ist damit noch nicht gelöst. Fahrradparkplätze an den Berliner Zentralbahnhöfen sind zwar vorhanden. Doch dort einen Platz zu finden, ist beinahe unmöglich, da alle vorgesehenen Bügel längst belegt sind. Somit suchen nicht nur Autofahrer in der Berliner Innenstadt einen Parkplatz, sondern auch Radfahrer. Das kann schon mal ein paar Minuten dauern. Von den von der Politik immer wieder gern anvisierten Fahrrad-Parkhäusern gibt es in Berlin weiterhin keines, weil auch dafür der Platz fehlt.
Doch bei aller kritischen Betrachtung hat sich in den letzten 35 Jahren auch viel zum Guten verändert. Entscheidend dabei war die Wiedervereinigung der beiden Stadthälften nach dem Zusammenbruch der DDR. Nach dem Mauerfall war es für Radfahrer aus West-Berlin ein echter Schock mit dem Rad durch die ehemalige Hauptstadt auf der anderen Seite der Mauer zu fahren. Mit einem Rennrad mit 21mm Schlauchreifen auf acht Bar kam man nicht mal bis zum Alexanderplatz. Spätestens dann war das Hinterrad kaputt. Ost-Berlin nach der Wende war nur mit einem vollgefederten Downhill-Mountainbike und entsprechenden Stollenreifen befahrbar.
Seitdem haben die regierenden Politiker, egal welcher Partei, tatsächlich viel erreicht und immer auch die Sicherheit der Radfahrer im Blick gehabt. Bei der kompletten Stadtneuplanung zwischen Brandenburger Tor und Prenzlauer Berg war es natürlich eine Herausforderung, das vorhandene Straßenland neu aufzuteilen. Zumal der innerstädtische Raum nicht mehr geworden ist. Trotzdem kommen Radfahrer heute halbwegs sicher durch die Innenstadt. Und auch im Bewusstsein hat sich viel verändert.
Wer Mitte der 90er-Jahre mit einem Fahrradanhänger seine Kinder transportierte, konnte sich ganz sicher sein, mindestens einmal die Woche von der Polizei angehalten zu werden. Dann wurde der Fahrradanhänger auf die Verkehrstüchtigkeit überprüft, denn Anfang der 90-Jahre musste man einen Fahrradkinderanhänger noch in Italien oder Holland besorgen. In Deutschland gab es diese als Transportmittel für Kinder nicht, sondern lediglich für Laubsäcke, Selters- oder Bierkästen. Heute gehören er und das Lastenbike zum Verkehrskonzept, nicht nur der Berliner Landes-, sondern auch der Bundesregierung. Und auch die Rücksichtnahme der motorisierten Verkehrsteilnehmer auf Radfahrer hat erheblich zugenommen, wie auch die Unfallzahlen zeigen. Ob das nun der Verdienst von Pop-up-Radwegen, Fahrradstraßen oder Tempo-30-Zonen ist, sei dahingestellt. Im Sinne der Radfahrer hat sich, zumindest in Berlin, viel zum Guten verändert.