Vor 100 Jahren veröffentlichte André Breton sein „Manifest des Surrealismus“. Der Grafiker Frank Nikol setzt diese Gedankenwelt in seinen Ein-Bild-Geschichten fort.
Frank Nikol war jung und suchte nach einer anderen Welt, als er in diese Geschichte hineingeraten ist. „Als Schüler war ich gemeinsam mit einem Freund davon begeistert. Es war wie das Versprechen eines großen Abenteuers“, erinnert er sich. Es – das war der Surrealismus. Er und sein Freund haben damals viel gelesen über diese Bewegung, die sich „über dem Realismus“ bewegte, die Grenzen zwischen Traum und dem, was man Wirklichkeit nennt, einreißen wollte. „Und die Bilder haben uns fasziniert“, sagt Frank Nikol. Die Bilder von Max Ernst, Salvador Dalí, Miró, René Magritte und einigen heute nicht mehr ganz so bekannten Malerinnen und Malern.
Das war Mitte der 70er-Jahre. „Man wollte nicht werden wie die eigenen Eltern“, beschreibt Frank Nikol, Jahrgang 1957, den Geist dieser Zeit. „Der Surrealismus war im Grunde ein Versprechen auf eine Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Leben, eine Alternative zu einer bürgerlichen Welt“, erklärt er. Die beiden Jugendlichen konnten aus dem Vollen schöpfen: Neben der Malerei gibt es stapelweise surrealistische Literatur und dicke Bücher, die versuchen, diese geistige Bewegung zu erklären.
„Man wollte nicht werden wie die Eltern“
Didier Ottinger hat neulich in wenigen Worten zu erklären versucht, worum es geht: „Die Botschaft des Surrealismus ist ganz einfach“, hat er dem Sender „Euro News“ gesagt. Er sei „eine Ode an die Poesie“, Poesie wiederum „eine Mischung aus Rationalität, Denken und gleichzeitig Fantasie und Delirium“. Das sei die „sehr einfache Gleichung, die im Surrealismus immer wieder vorkommt.“ Anlass für diese kompakte Erklärung war die von Didier Ottinger kuratierte Surrealismus-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou. Anstoss für die Ausstellung, die Gemälde, Zeichnungen, Filme, Fotografien und literarische Dokumente präsentiert, ist die „Geburt“ des Surrealismus vor 100 Jahren. André Breton hatte 1924 in Paris das „Erste Manifest des Surrealismus“ veröffentlicht und damit im großen Stil Gedanken in die Welt geworfen, die bis heute aufgegriffen und weitergedacht werden. „Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen“, schrieb Breton.
„Der Surrealismus ist die Reaktion junger Menschen, die in den Krieg geschickt wurden, als sie etwa 20 Jahre alt waren. Schließlich kamen sie zurück und wollten die Welt zerstören, diese Welt, die die Zivilisation und die Menschheit in den Untergang getrieben hatte. Sie wollten etwas völlig Neues erschaffen“, erklärt der Pariser Kurator Ottinger. Einer dieser Männer war Wilhelm Albert Włodzimierz Apolinary de Wąż-Kostrowicki. Der unter dem Namen Guillaume Apollinaire bekannt gewordene Schriftsteller italienisch-polnischer Abstammung war wohl der erste, der die Bezeichnung „Surrealismus“ verwendet hat – zumindest schriftlich. Er wolle mit diesem unbekannten und daher symbolisch unbelasteten Wort eine Tendenz der gegenwärtigen literarischen und bildnerischen Aktivitäten benennen, schrieb er bereits 1917 in der Einleitung seines Theaterstücks „Les mamelles de Tirésias“ (dt.: Die Brüste des Tiresisas). Er hat es „ein surrealistisches Drama“ genannt.
Frank Nikol war fasziniert von dieser Welt, die ihm Breton und die surrealistischen Künstlerinnen und Künstler eröffneten. „Das war eine kleine Gruppe, die nach maximaler Aufmerksamkeit gesucht hat, durch Provokation einen Weg gefunden hat“, sagt er. Auch die „Nachfolgegruppe, die Situationisten“, die vor allem in den 60er-Jahren und da vor allem in der Pariser Studentenbewegung aktiv waren, haben den Schüler interessiert. „Das war eine Fortführung der Thematik, aber politischer“, erklärt er.
Es ist in dieser Zeit eine Methode entstanden, die „Kommunikationsguerilla“ genannt wird. Es wird dabei versucht, in einer Gesellschaft verankerte Symbole und Kommunikationsweisen zu durchbrechen. Das Ziel ist, Menschen dazu zu bringen, zu überdenken, was sie zu wissen glauben. Daraus ist unter anderem eine Kunstform entstanden, die zu Fotos neue Texte macht, Menschen auf diesen Fotos mit Sprechblasen Wörter in den Mund legt, die die in der Realität nicht gesagt haben.
„Jede Schülerzeitung, jede Studentenzeitung hat mit diesen Fotos mit fremden Sprachblasen gearbeitet“, erinnert sich Frank Nikol. In der Oberstufe des Gymnasiums hat er selbst auch an der Schülerzeitung mitgewirkt. Er erinnert sich noch gut, wie er Filmfotos ausgeschnitten und ihnen Sprechblasen verpasst hat – „mit völlig überdrehten, pseudosurrealistischen Texten“.
„Es gibt mehr als ein Verständnis von Kunst“
Dann kam das Studium. Frank Nikol wurde Grafiker. Die Liste seiner Auftraggeber liest sich wie das Verzeichnis der wichtigsten Printmedien der Republik: „Die Zeit“, „Der Spiegel“, „Stern“, „Focus“, das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“, „Mare“, „Merian“, „Playboy“ und viele andere. Seine „jugendliche Begeisterung für den Surrealismus“ ist allerdings nie ganz verschwunden. Und so hat er vor etwas mehr als zehn Jahren „neben der eigentlichen Illustrationsarbeit diese Gedanken wieder aufgegriffen“, erzählt er – als Projekt. „Ich habe wieder angefangen, gezielt Filmbilder zu sammeln, dann mit den Fotos als Vorlage Grafiken zu zeichnen – auch aus einer Lust heraus, mit Bildern und Texten auf eine Art zu arbeiten, die man selbst bestimmt“, erklärt er.
Entstanden sind „One Picture Stories“ unter dem Titel „Als wir noch Surrealisten waren“. Da sitzen etwa drei Männer in einem Auto und starren gebannt geradeaus. Eine Verfolgungsszene aus einem alten Gangsterfilm vermutlich. „Wir müssen umkehren. Ich glaube, wir sind 1979 falsch abgebogen“, lautet der Text, den Frank Nikol dazu ausgewählt hat. Unter einer Grafik, das drei Revolverhelden aus dem Western „Zwölf Uhr mittags“ zeigt, steht: „Wir haben schon mit Warhol gedreht, da konntet ihr noch nicht mal ,John Wayne‘ buchstabieren!“
Manchmal lasse er, während er zeichnet, den Fernseher laufen, sagt Frank Nikol. „Da passiert es manchmal, dass ich einen Satz höre und denke: Der passt, den nehme ich.“ Das sei Zufall. Aber generell versuche er schon, „es zu kontrollieren, wie ich zu Fotos und Texten komme“. Manchmal sitze er aber „über Fotos und muss sagen: Mir fällt nichts ein“. Vor den Filmbildern zu sitzen und nach Sätzen dazu zu suchen, sei „wie Lippenlesen, wenn man im Fernsehen den Ton ausmachen würde und aufgerufen wäre, die Geschichte zu finden zu dem, was da gerade als Dialog auf dem Bildschirm ist“.
Es kommt auch vor, dass er eine gute Idee hat und denkt: „Die schreibst du nachher auf.“ Und dann ist sie weg, die Idee – „die genaue Formulierung zumindest“. Er sei auch „sehr häufig überrascht, was Leute in meinen Arbeiten sehen“. Aber das sei eben auch deren „Freiheit, sich Dinge auszudenken, es anders zu sehen als ich“. Denn: „Es gibt mehr als ein Verständnis von Kunst, es gibt keine Bedienungsanleitung.“
Auch nicht für den Surrealismus selbst, findet Frank Nikol. „Bei aller Kontinuität in Bezug zur surrealistischen Ideenwelt“, findet „einiges davon in meiner Arbeit keine Fortsetzung“, sagt er. „Das revolutionäre Pathos zum Beispiel oder auch dieser manchmal heilige Ernst der Surrealisten – beides hat sich in meinen Augen überlebt. Dafür gibt es im ,Als wir noch Surrealisten waren‘-Projekt viel eher ein Interesse an Mitteln wie abgründigem Witz, Ironie und poetischer Offenheit“.