Es hatte sich lange angedeutet, doch wirklich realisieren können sie die Champions-League-Qualifikation bei Union Berlin noch nicht. Die Sommerpause wird helfen, den Riesenerfolg richtig einzuordnen.
In seinen Analysen beschränkt sich Urs Fischer immer auf das Wesentliche. Auch am letzten Spieltag. „An solchen Tagen soll man nicht viel quatschen“, sagte Fischer, „sondern feiern“. Und der Trainer und alle anderen, die es mit dem 1. FC Union Berlin halten, hatten allen Grund für eine Fußball-Party. Das Fischer-Team hatte für den Club wieder einmal Historisches geleistet. Auf den Tag genau vier Jahre nach dem Bundesliga-Aufstieg qualifizierten sich die Eisernen erstmals für die Champions League. Ein Fußball-Märchen, das sich zwar über die gesamte Saison hin angedeutet hatte, das aber selbst nach dem Saisonende noch unwirklich erschien. So erging es auch dem Erfolgscoach.
„Nicht viel quatschen, sondern feiern“
„Ich habe im Vorfeld immer von surreal gesprochen“, sagte Fischer unmittelbar nach dem 1:0-Sieg im Saisonfinale gegen Werder Bremen, mit dem sich Union Tabellenplatz vier und damit das Startrecht für den wichtigsten Clubwettbewerb im europäischen Fußball sichern konnte. Ein anderes Wort als „surreal“ fiel Fischer weiterhin nicht ein. „Das kann ich nicht beschreiben, dafür fehlt mir das Wort“, sagte er im TV-Interview und bat um Verständnis: „Ich kann das noch nicht richtig einordnen, dafür brauche ich einen Moment. Ich glaube, ich muss das noch ein bisschen sacken lassen.“ Den Fans fiel die Einordnung des kleinen Fußball-Wunders deutlich leichter. Als die Spieler auf dem Rasen den Königsklassen-Einzug feierten und die herausragende Stimmung im Stadion An der Alten Försterei aufsaugten, entrollten die Anhänger auf der Tribüne ein Plakat mit der Aufschrift: „Wat ‘ne Saison. Da kannste echt nich‘ meckern!“
Wohl wahr. Beste Saisonplatzierung (4.), höchste Punkteanzahl (62) und meiste Treffer (51) in der noch jungen Bundesligageschichte, dazu sind die Berliner seit 23 Spielen in der Alten Försterei ungeschlagen. Nur an zwei Spieltagen stand Union nicht auf einem Champions-League-Platz, zwischenzeitlich war man gar Tabellenführer und kurzzeitig ärgster Verfolger der Bayern. Kurzum: Der Einzug in die Königsklasse war kein Zufall oder der Schwäche von höher eingeschätzten Teams wie Bayer Leverkusen oder dem VfL Wolfsburg zu verdanken. Union hat sich den Riesenerfolg redlich verdient. Nach dem Aufstieg 2019, dem Klassenerhalt 2020, dem Einzug in die Conference League 2021 und Europa League 2022 ist das der nächste Meilenstein in der Entwicklung des Clubs, die mit „atemberaubend“ fast noch zu zurückhaltend formuliert ist.
Es brauchte auch nicht erst die Königsklasse für Union und den Abstieg von Hertha BSC, um den Status der Nummer eins in Berlin für sich zu beanspruchen. Die Köpenicker sind den Blau-Weißen aus Westend sportlich und inzwischen auch finanziell enteilt. Vieles von dem, was bei Hertha falsch gelaufen ist und zum siebten Abstieg der Clubgeschichte geführt hat, bekam Union bemerkenswert gut hin. Die Kontinuität auf der Trainerbank gehört dazu. Unter Aufstiegstrainer Fischer hat sich das Team trotz zahlreicher Abgänge von Leistungsträgern und begrenzter finanzieller Mittel kontinuierlich zu einem Europacup-Dauerstarter entwickelt. Dafür feierten ihn die Union-Fans nach dem Bremen-Spiel – aber nicht nur die. „Ich hatte meine Familie und Eltern am Telefon. Toll, sie haben mitgefiebert, mitgelitten und mitgeflucht“, verriet Fischer: „Schön, wenn es am Ende aufgeht.“
Rani Khedira hatte ebenfalls Nachrichten von seiner Familie aufs Handy bekommen. Auch Bruder Sami, der als Weltmeister von 2014 noch etwas berühmter ist als der Union-Profi, war einer der Gratulanten. Mit seinem Bruder wird sich Rani Khedira sicher über die Champions League austauschen. Wie es ist, gegen die absoluten Topstars zu spielen. Die berühmte Hymne zu hören. Mit dem Druck umzugehen. Duelle gegen Manchester City oder Paris Saint-Germain werden eine neue Herausforderung für einen Club wie Union Berlin, doch Khedira will die Aussicht darauf genießen. „Jetzt haben wir fünf Wochen Urlaub“, sagte er, „wo wir uns ein Stück weit feiern lassen können“.
Großer Auftritt für Khedira
Die Fans feierten vor allem ihn. Mit seinem Siegtreffer in der 81. Minute gegen Bremen beseitigte der Mittelfeld-Stabilisator alle Zweifel an einem Erfolg im Fernduell mit dem SC Freiburg um Platz vier. „Es war eine Gefühlsexplosion in dem Moment“, beschrieb Khedira seine Emotionen nach dem Tor, das die Alte Försterei zum Beben brachte: „Unglaublicher Moment, wunderschön. Das werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen.“ Der 29-Jährige übernahm Verantwortung, als alles auf der Kippe stand. In der Halbzeit habe er erfahren, dass Freiburg in Frankfurt führte und in der Blitztabelle an Union vorbeigezogen war. „In der 65. gehe ich raus, trinke was und frage, ob es immer noch so ist. Dann hast du in der ersten Halbzeit gefühlt 35 Ecken, bist oft am Ball und hast Torchancen. Du hast das Gefühl, wann kommt das Tor endlich?“, berichtete Khedira: „Dann schreibt der Fußball eigentlich solche Geschichten, dass du irgendwie ein dummes Gegentor bekommst, und dann rennst du der Sache mal richtig hinterher.“ Doch es kam anders – weil Khedira seinen großen Auftritt hatte. Nach einer Flanke von Sheraldo Becker behauptete Sven Michel im Strafraum den Ball, legte kurz ab auf den Vizekapitän, und der schoss überlegt und unter Mithilfe des rechten Innenpfostens ins Tor. „Ich bin im Training oft genug dafür kritisiert worden, nicht mit der Innenseite zu schießen. Ich habe gefühlte 400-mal vom Trainerteam gehört: Nimm die Innenseite“, verriet Khedira. In jenem Moment habe er auf seine Trainer gehört, die hätten „eben doch manchmal recht“. Genau wie in der Halbzeitpause, als Fischer auf Kritik verzichtete. Auch das Zwischenergebnis von Freiburg sprach er nicht direkt an. „Das Ziel war“, erklärte Fischer, „in der zweiten Halbzeit genau gleich zu spielen“. Nur mit mehr Effizienz. Er sei „wirklich stolz“ darauf, „wie ruhig die Mannschaft geblieben ist“. Das 1:0 sei dann „der Dosenöffner“ gewesen. Für alle Beteiligten und Zuschauer war es eine Befreiung. Fischer selbst wisse nicht mehr, wie er das Tor gefeiert habe: „Aber ich gehe mal davon aus, dass ich die Faust gemacht habe, weil ich mich wahnsinnig gefreut habe.“
Wechseln jetzt für die Königsklasse die großen Stars zu Union? Eher nicht. „Wir würden nichts auf den Kopf stellen, sondern weiter konventionell planen“, hatte Sportchef Oliver Ruhnert schon vor Wochen gesagt: „Selbstverständlich versuchen wir, Spieler zu bekommen, die wir vor zwei, drei Jahren noch nicht hätten bekommen können – für die Union mittlerweile aber infrage kommt.“ Und natürlich werde man die Champions-League-Millionen „auch in den Kader reinvestieren“. Khedira wird genau beobachten, welche Pläne der Manager und die Scouts in die Tat umsetzen. „Mit viel Geld kannst du auch viel Blödsinn anstellen“, sagte er.