Reinhold Messner ist eine Bergsteiger-Legende. Er war auf allen 14 Achttausendern dieser Erde, hat den Mount Everest zweimal bestiegen und zahllose weitere Expeditionen erfolgreich gemeistert. Im Interview spricht er über Höhen und Tiefen, die Entwicklung des Alpinismus, den Everest-Tourismus und den Sinn, den er selbst seinem eigenen Leben gegeben hat.
Herr Messner, Sie waren gleich zweimal auf dem höchsten Berg der Erde, haben ihn sogar alleine bezwungen und damit einen Rekord aufgestellt …
Eines vorweg. Ich habe keinen Rekord aufgestellt, weil es ja keine Vergleiche gibt, bei denen es die gleichen Bedingungen gibt. Und bezwungen habe ich die Berge auch nicht. Das ist eine Sprache, die ich nicht mehr nutze. Das ist eine Sprache aus den 30er-Jahren, da hat man die Berge bezwungen, den Gipfel als Erster erreicht und die nationale Fahne aufgestellt. Das war kolonialistisches Gehabe. Der Everest ist ein Rekord in sich. Er ist der höchste Berg der Welt, das ist messbar, und damit ist das auch ein Rekord. Aber es ist nicht der Bergsteiger, der den Gipfel erreicht, der einen Rekord liefert, sondern der Berg an und für sich ist ein Rekord, und der zieht Hunderttausende von Leuten an. So viele können nicht hinaufsteigen, aber es möchten sehr viele da hinauf, um eben diesen Rekordberg bezwungen zu haben.
Dann formuliere ich es anders. Was treibt einen an, sich diesen Strapazen in dieser doch lebensfeindlichen Umgebung zu stellen?
Es ist anstrengend, und es ist auch gefährlich. Nach wie vor. Lassen wir jetzt mal die Tatsache weg, dass dieser Berg inzwischen präpariert wird und so zu einem banalen Aufstieg wird. Die Leute auf der Straße meinen ja, der höchste Berg der Welt ist gleichzeitig auch der schwierigste. In Wirklichkeit ist er einer der leichtesten Berge, wenn er präpariert ist, die man besteigen kann. Allerdings steigen heute alle mit der entsprechenden Technologie. Ansonsten ist es natürlich nach wie vor sehr schwierig. Es ist so, dass man dabei umkommen könnte. Alle Jahre kommen zehn, zwölf Leute dabei um.
Bei mir ist die Sache ganz einfach. Ich bin als Kind daheim in den Dolomiten zum Klettern gekommen und habe das langsam gesteigert. Damit entstand aus einer Tat der Wunsch, schwieriger zu klettern. Immer höher und schwieriger. Wenn man dem Ganzen auf den Grund geht, dann kommt es auf die Sinnhaftigkeit des Lebens an. Angesichts des Todes wird das Leben absurd. Natürlich war ich als normaler Mensch mit zwölf Jahren oder 20 Jahren nicht angesichts des Todes unterwegs. Aber wenn ich an die Grenze des Machbaren und damit an die Todesgefahr komme, bin ich auch mit 25 Jahren am Everest im Angesicht des Todes. Und nur, wenn ich dieser Absurdität eine Sinnhaftigkeit gebe, die ich also selber gebe, ist das Ganze machbar. Ein vernünftiger Mensch geht dort nicht bis an den Rand der Möglichkeiten, mit dem Risiko umzukommen, um nicht umzukommen. Wir gehen ja freiwillig dorthin, wo wir umkommen könnten, um nicht umzukommen. Das Nicht-Umkommen ist die Kunst, aber das Nicht-Umkommen ist das Ziel, wenn ich dem Tun Sinn gebe. Es ist nutzlos, aber ich mache es mir sinnvoll. Und damit sind wir in der großen religiösen Frage, wo kommt der Sinn des Lebens her?
Worin liegt für Sie der Sinn?
Ich lege den Sinn hinein, und zwar wie, wo, mit welchen Mitteln und mit wem ich auf diesen Berg, auf
den Everest, steige. Das heißt, ich nehme mir das Recht heraus, meinem Leben meinen Sinn einzuhauchen. Und ich habe nichts mehr mit dem am Hut, was die Religionen dazu sagen, was der Sinn des Lebens sei.
Der Tod ist auf solchen Touren ja ein ständiger Begleiter. Daher versucht man doch, das Risiko, ihm zu begegnen, so gut es geht zu minimieren. Wie passt das dann, den Aufstieg ganz alleine anzugehen? Das ist ja maximales Risiko.
Das gehört zu meiner Sinngebung dazu. Der Alpinismus ist ja eine späte Erscheinung der Aufklärung. Vor der Aufklärung gab es keinen Alpinismus, weil die Menschen andere Sorgen hatten und nicht so dumm waren, ihre Köpfe unter Steinschlag oder Lawinen zu stellen. Erst mit der Aufklärung und der Industrialisierung haben die Menschen angefangen, Berge zu besteigen, denn nur damit waren die Mittel frei. Im Kern ging es darum, die Gipfel zu besteigen, sie zu erobern. Vor allem waren die Engländer, die auch die Kolonialherren weltweit waren, die ersten, die das taten. Später wurde es eine globale Erscheinung. Die heutige Alpinistik probiert, mit so vielen Absicherungen unterwegs zu sein, dass Todesfälle relativ selten sind. Wenn es viel erscheint, dann nur deswegen, weil es so viele Menschen sind, die sich inzwischen in Gefahr begeben. Nach der Eroberung der Gipfel suchte man dann nach den schwierigeren Routen. Der Weg wurde das Ziel. Je schwieriger, desto wertvoller. Und dann kam der Verzichtsalpinismus, den ich geprägt habe. Mit immer weniger Ausrüstung, immer weniger Sauerstoff, ohne Träger und ohne Begleiter aufzusteigen. Aus wirtschaftlichen Gründen, bei mir, denn es ist viel kostengünstiger, also aus nichtethischen Gründen. Die Engländer würden sagen aus einer Frage der Fairness.
Wie stehen Sie zu der Entwicklung heute, wo jeder, der genügend Geld übrig hat, sich auf den Everest bringen lassen kann?
Inzwischen zahlen Gäste über eine Million Dollar, um auf den Everest gebracht zu werden. Die wollen sicher hinaufkommen und überhaupt den Gipfel erreichen, und damit ist dieser Markt entstanden. Aber das, was heute am Everest passiert, ist nicht Alpinismus. Das ist nicht Bergsteigen, es ist Tourismus. Der Berg wird präpariert, wird regelrecht in Seile und Ketten gelegt. Da arbeiten Sherpas einen Monat lang, um eine Piste zu präparieren, vom Basislager bis zum Gipfel. Übrigens fliegt man heute stillschweigend bis in die Mitte des Berges, nicht alle, aber einige. Um das erste Stück, das gefährlichste Stück, zu überspringen. Im Basislager gibt es fünf Heliports, wo man ständig Helikopter mieten und hinauffliegen kann. Man ist also innerhalb von wenigen Minuten vom Basislager in Lager II, und dann ist die Route relativ sicher und abgesichert. Die reichsten Nepalesen heute sind Sherpas, weil sie mit diesem Tourismus ordentlich Geld verdienen.
Dennoch unterschätzen viele die geringe Sauerstoffdichte dort oben. Versuchen Sie doch mal zu beschreiben, was in dieser Höhe im Körper passiert.
Im ganzen Gipfelbereich von 8.000 Meter aufwärts kann sich der Körper nicht erholen, wenn ich nicht Mengen von Sauerstoff zuführe. Und wenn ich den selber tragen muss, kann ich ihn nicht zuführen. Weil er zu schwer ist. Deshalb lassen die Gäste, die da hinaufwollen, den Sauerstoff von den Sherpas nachtragen. Heute benutzten die Bergsteiger im Durchschnitt das Doppelte der Sauerstoffzufuhr als noch zur Zeit von Hillary vor 70 Jahren. Viele dieser Gäste wissen gar nicht, wo genau sie sind. Sie kommen dahin, jeder hat drei, vier Leute um sich, die einen betreuen. Träger, Führer und so weiter. In jedem Lager sind Köche und Ärzte. Wenn man es nicht selber gesehen hat, glaubt man es nicht. Es ist wie auf einem Markt. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich nicht selber des Öfteren da gewesen wäre. Da steht eine ganze Zeltstadt, und Sie brauchen mehr als eine Stunde, um die ganze Zeltstadt zu durchqueren. Das ist ein Dorf, eine ganze Stadt. Da stehen 1.000 Zelte. Da sind 500 Einheimische, die arbeiten. Das ist erfolgreicher Tourismus, der den einst armen Sherpas, heute sind sie wie gesagt nicht mehr arm, eine Lebensexistenz garantiert. Aber Alpinismus ist das nicht. Wenn ich eine Spur legen lasse, ein Fixseil, an dem ich mich auch noch halten kann, und dann eine Menge an Sauerstoff mitführe, ist der Berg eben nur noch ein banaler Berg. Man hat den Everest zu einer Banalität gemacht. Das ist schade, denn das ist nicht mehr der reale Everest.
Nochmals zurück zur eigentlichen Frage: Was passiert in dieser Höhe im Körper? Werde ich schneller müde, kann ich mich überhaupt noch erholen?
Sie werden nicht nur schneller müde, Sie werden unendlich langsam. Sie können einfach keinen Schritt mehr machen, wenn Sie keinen Sauerstoff zum Blutzucker bringen. Genügend kriegen Sie sowieso nicht hin, aber Sie müssen so lange schnaufen, schnaufen, schnaufen, stehend, bis Sie wieder ein bisschen Blutsättigung haben. Dann können Sie wieder einen oder zwei Schritte machen. Indem Sie aber so langsam werden, haben Sie das Gefühl, dass der Berg unendlich groß wird. In den Alpen schaue ich vielleicht von einem Grat zum Gipfel und sehe, da brauche ich noch drei Minuten hin. Am Mount Everest brauche ich dafür 30 Minuten oder vielleicht sogar 300. Man wird unendlich langsam, und damit entsteht das Gefühl, der Berg sei unendlich groß, und das ist er tatsächlich auch.
Was hat Sie bei ihren Besteigungen am meisten positiv beeindruckt und was war der bewegendste Moment im negativen Sinn?
Natürlich war die Tragödie am Naga Parbat mit dem Verlust des Bruders das Schlimmste, was ich erlebt habe. Da war ich dem Tod sehr nahe. Das schönste Erlebnis in diesem Zusammenhang waren eine paar Dolomitenklettereien, die an der Grenze meines mir Machbaren lagen, und die das gleiche Abenteuer waren, wie später die Besteigung des K2 bei großartigem Wetter.
Sie haben den Tod des eigenen Bruders selbst angesprochen. Sie selbst mussten bei dieser Expedition körperlich sehr leiden, haben sieben Zehen verloren, die erfroren sind. Diese Erlebnisse waren ja ganz am Anfang Ihrer Karriere. Was hat Sie angetrieben, nach solchen Schicksalsschlägen weiterzumachen?
Natürlich war das zunächst schwierig zu verkraften. Es kamen ja dann auch Vorwürfe, und im Grunde ist die Geschichte heute noch nicht ausgestanden, weil die Leute, die da irgendetwas in die Welt gesetzt und erfunden hatten, nicht runterkommen von ihrer Rufmord-Kampagne. Dabei ist diese inzwischen durch den Fund der Überreste meines Bruders widerlegt. Aber nachgeplappert wird das alles nach wie vor. Das hat natürlich auch unsere Familie, wir waren ja eine große Familie mit neun Kindern, erschüttert. Wenn da konträre Geschichten aufkommen zu dem, was ich erzählt habe, ist das für die Eltern sehr belastend.
Der Gletscher hat Ihren Bruder Jahrzehnte später freigegeben.
Ja, ich habe meinen Bruder am Nanga Parbat verloren, da waren wir fast schon am Fuße des Berges, als er unter einer Lawine verschwunden war. Da konnte man ihn auch nicht ausgraben. Er ist dann ausgeeist, weil der Gletscher ja langsam dünner wird. Der Gletscher zieht talwärts und nimmt einen Toten mit. Er trägt ihn sozusagen bis an den unteren Rand, wo der Gletscher dann in Wasser übergeht. Bei uns war es so, dass der Tote 3,5 Kilometer in 35 Jahren mitgetragen wurde. Dort ist er ausgeeist.
Dennoch kamen all Ihre großen Leistungen erst nach diesem tragischen Unglück. Was hat Sie bewogen, nicht aufzuhören?
Ich habe mich nach einem Jahr des Zögerns und des Zweifelns entschieden, weiterzumachen. Allerdings nicht wie vorher. Ich war vorher Felskletterer gewesen. Wegen des Verlusts der Zehen konnte ich das nicht mehr so gut. Und durch den Verlust an Fähigkeiten hatte ich auch an Begeisterung verloren. Die Motivation habe ich dann in die Aufstiege der großen Berge gesteckt. Ich habe mich dann 15 Jahre lang an 8.000ern und 7.000ern, auch Bergen in den Anden, abgearbeitet. Mit großem Erfolg. Ich war damit in der Lage, all meine Expeditionen selber zu finanzieren und habe nach den 8.000ern aus einer neuen Begeisterungswelle heraus auch die Polgebiete und die großen Wüsten besucht und durchquert. Später habe ich mit der gleichen Art und Weise meine Museen aufgebaut.
Sie sind mittlerweile 78 Jahre alt. Wo andere längst ihren Ruhestand genießen, sind Sie noch immer sehr aktiv unterwegs. Was treibt Sie an?
(lacht) In der Tat, ich sitze vor einem Buch, das nächstes Jahr erscheinen wird. Ich bin dabei, aufzuräumen. Ich habe langsam vor, keine Bücher mehr zu schreiben, höchstens alte Bücher zu überarbeiten und auf den neuesten Stand zu bringen. Aber ich werde mir weiterhin Aufgaben stellen. Ich bin der Meinung, wir Menschen haben eine große Möglichkeit: Wir sind kreativ, was vermutlich die KI nicht sein wird. Wir können aus Ideen oder Tagträumen Projekte machen, und bei der Umsetzung dieser Projekte entsteht in uns gelingendes Leben. Und dieses gelingende Leben schenkt uns Glück. Einen anderen Weg gibt es nicht zum Glück. Und dieses gelingende Leben ist viel wertvoller, als mit 80 Jahren auf ein gelungenes Leben zurückzuschauen. Das werde ich auch mit 90 nicht tun, falls ich so alt werden sollte. Ich werde auch mit 90 weiterhin Projekte finden, die dem Alter entsprechen und die ich versuchen will, umzusetzen. Die müssen nicht immer gelingen, aber das Umsetzen, der Versuch des Umsetzens schenkt uns im Hier und Jetzt gelingendes Leben. Darauf nur baut die Kunst des Lebens.