Experten fordern einen Re-Start in der Digitalpolitik
Viele Unternehmen fühlen sich vom Tempo der Digitalisierung wie von einem IT-Rennwagen überrollt. Sagt Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst. Dabei hinkt Deutschland mit seinem dezentralen Aufbau hinter anderen Ländern her, wenn es um weniger Papier in den Mühlen der Bürokratie geht. Der Digitalverband Bitkom ermuntert die Bundesregierung somit zu Sofort-Aktionen. Per Generalklausel solle die neue Exekutive Schriftformerfordernisse abschaffen. Das bedeutet, in allen Bereichen die Digitalisierung zu ermöglichen. Außerdem soll die Regierung einen Regulierungs-Stopp ausrufen.
Menschen mögen Veränderungen nicht sonderlich. Konservatismus feiert Erfolge. Bewahren, Retten und Erhalten lautet die Übersetzung des lateinischen „conservare“. Wenn sich das Klima in Politik und Natur wandelt, müsste Konservatismus folglich mit Veränderungsbereitschaft übersetzt werden. Auch in der Wirtschaft. Digitalverbands-Chef Wintergerst versteht es dennoch, wenn Unternehmen an traditionellen, erfolgreichen Geschäftsmodellen festhalten. Nur: „Sich gar nicht um Digitalisierung zu kümmern, ist ein gefährlicher Pfad“, sagt er. Und erzählt, dass in seiner Firma Geschäftsberichte, vor menschlicher Schlussredaktion, an die KI statt an Agenturen outgesourct würden.
Selbst Firmen, die eifrig digitalisieren, werde manchmal alles zu viel: „Wenn Sie heute ein großes SAP-Projekt fahren, parallel in weiteren Ländern eine andere Digitalisierung als in Deutschland aufsetzen und auch noch KI einführen, wird das immer komplexer.“ Erstmals hat eine Mehrheit von 53 Prozent der zur Digitalisierung der Wirtschaft in Deutschland befragten über 600 Unternehmen angegeben, Probleme bei der Bewältigung der Digitalisierung zu haben. So viele wie noch nie. Fünf Prozent mehr als vor einem Jahr. „Die Zyklen haben sich so verdichtet, da kommt man kaum mehr hinterher“, erklärt der Bitkom-Chef. „Einige sagen, sie kommen schlicht nicht mehr mit.“ Nur den wenigsten Unternehmen falle es leicht, digitale Produkte oder Dienste zu entwickeln. Datenschutz sei das Digitalisierungs-Hemmnis Nummer eins.
Ob Registermodernisierung, Bürgeridentitäten oder digitale Identitäten: Deutschland gilt als rückständig, wenn es um Digitalisierung geht. Könnte es tatsächlich Abhilfe schaffen, einen dreistelligen Milliardenbetrag über die nächsten Jahre zu investieren? Wer soll’s richten: Ist es Selbstkasteiung und ein Schuldeingeständnis, wenn 82 Prozent der Unternehmen die Meinung vertreten, die aktuelle Krise der deutschen Wirtschaft sei auch eine Krise zögerlicher Digitalisierung? Wenn 73 Prozent sagen, durch zu langsame Digitalisierung habe die deutsche Wirtschaft Marktanteile verloren?
„Die neue Bundesregierung muss einen Re-Start in der Digitalpolitik wagen – und zwar von Tag eins an“, sagt der Verbandschef. Und fordert „wirksame Maßnahmen“ gleich in den ersten 100 Tagen, analog zum Bitkom-Digitalplan. In dessen Zentrum steht ein eigenständiges Digitalministerium, kein „Anhängsel“ eines anderen Ressorts. Eine Digitalagentur soll als Teil des Digitalministeriums die Digitalprojekte des Bundes umsetzen. Abstimmungen seien nach wie vor nötig, aber bestimmte Kompetenzen gebündelt. Sonst gehe die „Kleinstaaterei mit Bund und Ländern“ immer so weiter, betont Wintergerst. „Zum Nulltarif“ gebe es das zentrale Digitalministerium, ohne personelle Aufstockung, indem Ressourcen umverlagert und konzentriert würden. Mit einem Digitalminister, der „am besten“ aus der Wirtschaft komme.
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz steigt. KI nutzen mittlerweile 17 Prozent (2024: 13 Prozent), 40 Prozent planen und diskutieren sie noch. Doch KI könnte schon wieder ein wenig retro sein. Im ersten kommerziell angebotenen Computer mit Bioreaktor sollen menschliche Gehirnzellen mit einem Chip verbunden sein und Rechenaufgaben erledigen. Ein australisches Unternehmen setzt auf solche Biological oder auch Organoide Intelligence. Weil Künstliche Intelligenz ineffizient sei und viel Strom verbrauche. Zudem könnten KI-Chips nicht mit menschlichen Neuronen mithalten.