In Deutschland ist die Atomkraftdebatte nach dem Wahlkampf zum Erliegen gekommen. Das hat handfeste wirtschaftliche und wissenschaftliche Gründe. Frankreich jedoch setzt weiter auf diese Energie – und kämpft mit den Nachteilen.
Der Ausstieg aus der Atomkraft sei „Irrsinn“. So versuchte Kanzler Friedrich Merz potenzielle Wähler noch Anfang des Jahres auf die Seite der CDU zu ziehen. Und sein Parteifreund Jens Spahn wollte die letzten abgeschalteten Reaktoren in Deutschland einem Test unterziehen: Lohnt es sich, diese wieder anzuwerfen?
Offenbar nicht. Von den Atomkraftplänen scheint die Union wieder abgekommen zu sein, im Koalitionsvertrag verliert Schwarz-Rot darüber kein einziges Wort. Ganz anders unsere Nachbarn. Die französische Atomkraft bleibt dem Land noch eine ganze Weile erhalten: Ein Großteil von Frankreichs Atomkraftwerken darf nach einer Entscheidung der Atomaufsicht nun insgesamt 50 Jahre lang in Betrieb bleiben, zehn Jahre mehr als vorgesehen. Die Behörde genehmigte für 20 Atomkraftwerke diese Laufzeitverlängerung und forderte den staatlichen Betreiber EDF zugleich zu Verbesserungen bei der Sicherheit auf, wie es in einer Stellungnahme der Behörde hieß. Bereits 2021 hatte die Atomaufsicht für 32 Reaktoren eines älteren Kraftwerkstyps eine Laufzeitverlängerung auf 50 Jahre erlaubt. Die betroffenen Reaktoren wurden in den 1980er-Jahren in Betrieb genommen. Einige davon erreichen demnächst eine Betriebslaufzeit von 40 Jahren – und damit eigentlich das Ende ihrer Betriebsdauer.
Betriebslaufzeit um zehn Jahre verlängert
Im Gegensatz zu Deutschland setzt Frankreich für seine Energieversorgung und das Erreichen von Klimaschutzzielen, neben dem Ausbau der Erneuerbaren, weiter auf den Ausbau der Atomkraft. Auf EU-Ebene hatte das Land erfolgreich dafür lobbyiert, dass nukleare Energie als nachhaltig anerkannt werde. Deshalb könnte das Land auch langfristig weitere Reaktoren bauen. Die Inbetriebnahme eines ersten von zunächst sechs geplanten neuen Reaktoren wird für 2038 angestrebt. Frankreich liegt mit aktuell 57 Reaktoren hinter den USA auf Platz zwei der größten Produzenten von Atomstrom weltweit.
Befürworter der Atomenergie in Deutschland verweisen immer wieder auf diese beiden Länder, auf neu gebaute Reaktoren weltweit. In Zeiten, in denen Energie unter anderem wegen des russischen Krieges in der Ukraine und dem Ausbau der Erneuerbaren teuer ist, müsse Energie bezahlbar bleiben, argumentierten auch Wirtschaftsverbände – und deshalb sei ein Abschalten in dieser Situation unverständlich. Die Meiler sind abgeschrieben, die produzierte Energie demnach billiger. Die Produktion laufe konstant, unabhängig von Tages- und Nachtzeiten oder Windstärken. Atomkraftwerke stoßen dabei kein CO₂ aus und könnten so helfen, die Klimaziele zu erreichen, indem sie fossile Brennstoffe ersetzen.
In Zeiten des Klimawandels und des Hochlaufs erneuerbarer Energien aber verlieren diese Argumente an Kraft. Netto werden mehr Reaktoren abgeschaltet als neu hochgefahren, so die Gesellschaft für Reaktorsicherheit in Deutschland, die auch den Markt der nuklearen Energie weltweit betrachtet. Neue Reaktoren werden trotzdem gebaut.
Laut World Nuclear Association sind derzeit in Asien und dort besonders in China 40 Atomkraftwerke im Bau. In Europa sind es 14, im Nahen Osten und Afrika 4, in Süd- und Mittelamerika zwei. Weltweit arbeiten 417 Atomkraftwerke, ihr Durchschnittsalter laut Gesellschaft für Reaktorsicherheit: zirka 37 Jahre. 2024 sind insgesamt sechs neue Reaktorblöcke ans Netz angeschlossen worden, zusätzlich sind zwei japanische Blöcke, die seit der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 abgeschaltet waren, wieder hochgefahren worden. Demgegenüber stehen vier Einheiten, die stillgelegt wurden. 23 Meiler weltweit laufen im Modus „Suspended Operation“. Dabei handelt es sich um Reaktoren, die langfristig heruntergefahren, aber noch nicht endgültig stillgelegt worden sind. Zwar stieg die installierte Nettoleistung an elektrischer Atomenergie an, der Anteil der Atomkraft am internationalen Energiemix sank aber nun erstmals unter zehn Prozent (Höchstwert: 1997 bei knapp 18 Prozent) – nicht nur wegen dem Zubau an Erneuerbaren, sondern auch wegen vermehrter fossiler Kraftwerke, unter anderem auch in China, und dem vermehrten Abschalten älterer Reaktoren, die ihre Lebensdauer erreicht haben.
Stillstand wegen zu warmer Flüsse
Dass Deutschland die Atomkraftwerke trotz hoher Energiepreise gefahrlos abschalten konnte, lag auch am geringen Anteil der Atomkraft im Netz. Zuletzt, vor der Abschaltung der letzten Reaktoren, waren es noch etwa sechs Prozent. Neue Anlagen zu bauen würde von Planung bis Fertigstellung etwa 15 bis 20 Jahre dauern – zu lange, denn in 15 Jahren will Deutschland seine Klimaziele schon erreicht haben. Außerdem stellt sich der Bau immer wieder als teuer heraus. Der größte europäische Reaktor in Finnland wurde nach 17 Jahren fertig und kostete am Ende statt vier Milliarden zwölf Milliarden Euro. Der neueste französische Reaktor Flamanville 3 produziert seit diesem Jahr Energie – nach ebenfalls 17 Jahren Bauzeit und einer Kostenexplosion von 3,3 auf laut Rechnungshof 19 Milliarden Euro. Eine sicherheitstechnische Erneuerung der älteren französischen Kraftwerke kostet laut Angaben der Betreiber mehrere Milliarden Euro. Derzeit treibt neben China nur ein Land im großen Stil weltweit den Bau von Atomreaktoren voran: Russland, das damit gleichzeitig Abnehmer für sein heimisches Uran gewinnbringend entwickeln möchte.
Gewichtigstes ökonomisches Argument gegen Atomstrom sind vor allem seine Gestehungskosten, also die Gesamtkosten seiner Herstellung. Die US-Investmentbank Lazard schätzt diese bei Atomkraft derzeit auf 131 bis 204 US-Dollar pro Megawattstunde. Im Vergleich dazu sind Solar- und Windkraftanlagen geradezu billig: Windkraftanlagen kosten nur 26 bis 50 Dollar, Solar-Freiflächenanlagen nur 28 bis 31 Dollar pro Megawattstunde, so Lazard in einem Bericht zu Energiekosten. Im historischen Vergleich ist Atomstrom damit um ein Drittel teurer als vor 15 Jahren, Solar- und Windstrom um 70 Prozent günstiger. Und Frankreich hat noch ein zusätzliches Problem: Teuren Strom bezahlt zum Teil der hochverschuldete Staatshaushalt. Laut einer Vereinbarung zwischen dem französischen Staat und dem Betreiber EDF soll der Strom ab dem Jahr 2026 maximal sieben Cent pro Kilowattstunde kosten. Dort deckelt die Staatskasse den Energiepreis, um möglichen Preissprüngen vorzubeugen und den Strompreis sozial verträglicher zu gestalten. Bleibt es bei dem derzeitigen Kilowattpreis, lässt sich das Kraftwerk damit kaum rentabel betreiben, so der französische Rechnungshof laut der Zeitung „Le Figaro“ in einem Gutachten. Es benötige einen Preis von mindestens zwölf Cent, um eine Rendite von vier Prozent zu erwirtschaften.
Außerdem offenbarte sich im Sommer vor wenigen Wochen ein weiterer Nachteil: Weil die französischen Atomkraftwerke meistens an Flüssen wie der Loire stehen, um dort Kühlwasser aufzunehmen und es erwärmt wieder in den Fluss abzuleiten, mussten zahlreiche französische Reaktoren vorübergehend abgeschaltet werden: Das Flusswasser war aufgrund der Hitzewelle schlicht zu warm.