Vidzeme ist Lettlands hügeligste Gegend mit vielen Felsen, Wald und Wasser – reich an Ritterburgen und Teufelshöhlen. Kein Zufall, dass ihr Name an die Fantasiewelt Tolkiens denken lässt.

Wasser windet sich durch enge Schluchten, rinnt plätschernd über gelbe, rote, braune Felsen in vielerlei Gestalt. Von oben gleicht die bunte Fluss- und Sandsteinwunderlandschaft einem verbeulten grünen Flickenteppich. Denn bis zum Horizont bedeckt sie Wald und Wildnis. Dahinter, knappe 40 Kilometer weiter, rauscht bereits die Ostsee.
Wir sind in Segewold, Sigulda, Lettland. Drei Fahrradstunden von der Hauptstadt Riga, die am flachen Rand der Region Livland liegt, beschleicht uns das Gefühl von einer fantasiegemachten Welt. Verstärkt wird das noch durch den Drachen, den die Provinz im Wappen trägt, und vor allem ihren Namen. Livland, lettisch Vidzeme, heißt wörtlich „Mittelerde“. Ob wir Orks und Elfen treffen? Oder Wölfe, Bären? Mit einem Elch wären wir schon zufrieden.
Zunächst gilt unser Augenmerk der Festung direkt unter uns. Es ist nicht Tolkiens Isengart, sondern die mittelalterliche Backsteinburg Turaida (Treyden). Genau in deren Mitte steht ihr ältestes und höchstes Bauwerk, der 27 Meter hohe Bergfried, unser Aussichtsturm. Läuft man in seinem obersten Geschoss – der Wehrplattform – im Kreis und schaut dabei auf die zehn fenstergroßen Maueröffnungen, verändert sich die Welt durch die bewegten Bildquadrate wie bei einem alten Filmprojektor in Zeitlupe.

In Gedanken landen wir im Zeitalter der Kreuzritter, die ab 1214 auf Fundamenten einer Holzfestung heidnischer Liven ein „castell“ errichteten. Auftraggeber der deutschen Missionare und Eroberer war Albert von Buxthoeven. Als frisch gebackener Bischof von Livland – heute große Teile Lettlands wie auch Estlands – hatte der Bremer Kirchenadlige 1201 den Handelsplatz Riga zur Stadt sowie zu seinem Sitz erklärt.
Die nahe Trutzburg in Turaida an der Gauja, ursprünglich „Vredelande“ (Friedensland), sollte helfen, seine Macht im Baltikum zu stärken. Doch bald verlor sie Albert, mittlerweile Reichsfürst, mit einem Drittel Livlands an seine einstigen Verbündeten. Nicht zuletzt durch Kriege und Zerstörungen vergaß man ihren hoffnungsvollen Namen. Nach einem Brand im Jahre 1776 blieb sie Ruine – bis man 1953 mit dem Wiederaufbau anfing.
Die berühmte Teufelshöhle ist ein uralter Kultplatz

Heute nationales Denkmal, ist die Reko-Burg beliebter Platz für Kunst, Konzerte, Oper und Theater, vor allem aber Kernstück des Museumsreservats Turaida. Das umfasst auch eine Holzkirche von 1750, den Skulpturengarten „Hügel der Lieder“ sowie das Grab der „Rose von Turaida“. Das arme Mädchen starb aus Liebe und um ihrer Ehre willen.
Die Linde, die ihr Bräutigam auf ihrer letzten Ruhestätte pflanzte, grünt dort nun schon seit vier Jahrhunderten. Für Liebespaare ist der Platz ein Wallfahrtsort, genauso wie die Gutmannshöhle weiter südlich, wo die junge Frau den Freitod fand. Das Quellwasser der Höhle helfe, treu zu bleiben, sagt man. Zudem sei es gesund. Heilkräftiges Nass sprudelt auch in der Höhle Lielā Ellīte, dem „Teufelsofen“. Die berühmte Teufelshöhle von Krimulda, ein uralter Kultplatz, ist seit ihrem Teileinsturz gesperrt.

Der Gauja-Nationalpark, ältester und größter Lettlands, ist voller Rad- und Wanderwege. Als die erlebnisreichste Art, ihn zu erkunden, erweist sich allerdings ein Kajaktrip. Das dichte Flussnetz, das die Gauja sowie ihre Nebenarme bilden, ist dafür ideal. Bevor ihr Hauptstrom sich bei Carnikava nach 98 Schlangenkurven in den Rigaischen Meerbusen ergießt, durchquert er – sandig eingebettet, von Wald und bunten Felsen eingerahmt – ein zauberhaftes Tal, das zugleich wild und lieblich wirkt. Paddelnd wollen wir es jetzt erkunden. Auf Jeņču Laivas, einem Campingplatz bei Cēsis, steht unser Kajak schon bereit. „Sveiki!“, begrüßt der blonde junge Lette uns in seiner Muttersprache, bevor er Englisch weiterspricht. „Ich bin Marcis“, sagt der 22-Jährige, der im nahen Valmiera studiert und jede freie Stunde nutzt, in der Natur zu sein. Bei seinem Sommerjob im Bootsverleih kann er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. „Ich liebe es zu angeln und zu paddeln. Hier habe ich fast jeden Tag Gelegenheit dazu“, verrät der angehende Businessman, gibt uns Tipps für unterwegs und hilft beim Einsteigen und Starten. Durch den sandigen, doch festen Untergrund geht alles einfach.
Neben uns setzt sich ein Floß mit einer Grillgesellschaft in Bewegung. Ein Spaßvogel am Ufer spielt den Titanic-Song dazu. So fängt auch unser kleines Abenteuer mit großem Filmorchester an. Nur die Haare wehen nicht so schön wie die von Kate und Leonardo. Dank Strömung treibt das leichte Kajak fast allein im Wasser. Es ist kühl und klar, doch rostig-braun getönt.
Versteinerte Panzerfische
Damit unterscheidet es sich auf den ersten Blick kaum von anderen Gewässern, die weltweit zunehmend „erbraunen“. Grund dafür ist ein Überschuss organischer Substanzen, bedingt durch Erderwärmung, Starkregen und Dürre. Auch die Gauja ist davon betroffen. Allerdings war sie noch nie ein „blauer Fluss“. Ein Berg von Münzen sei der Grund für ihre Farbe, weiß eine alte Sage. Eine Hexe soll das Geld einst in den Fluss geworfen haben. Sie strafte damit einen Mann, der ihr nicht helfen wollte. Vielleicht aber liegt es ja doch am Eisen. Sandstein enthält jede Menge davon. Bereits nach ein paar Paddelschlägen fängt das wahre Kino an. Regie führt die Natur. Wir haben nur Statistenrollen. Hauptdarsteller sind die Gauja und ihr Tal aus bunten Felsenwänden. Oft sind sie von Wasserfällen ausgewaschen, ausgehöhlt, durchlöchert. Der Sandstein selbst ist viele Jahrmillionen alt. Er entstand in einem Urzeitmeer des Devon, dessen höchstentwickelte Bewohner Fische waren.

Erst gegen Ende dieser Periode verwandelten sich einige in erste Lurchartige und eroberten das Land als zweiten Lebensraum. Per Abdruck oder als Versteinerung verewigten sich in dem bröseligen Sedimentgestein hauptsächlich Plattenhäuter, sogenannte Panzerfische. Besonders viele davon gibt es in den Dolomit- und Sandsteinfelsen an der Amata – dem kleinen, aber schnellen Nebenfluss der Gauja. Wir halten unter einem Felsvorsprung. Vom Boot aus suchen wir nach den fossilen Tieren. Ein Ruderarm, ein Kopf? Wir sind nicht sicher. Während wir die Wand der Grotte mit den Augen scannen, tummeln sich um uns herum vermutlich Neunaugen im Wasser. Diese fischähnlichen lebenden Fossilien, die jungen Aalen ähneln, sind die letzten Panzerfisch-Verwandten. In Lettland zählt die Gauja zu ihren Lieblingslaichgewässern, ebenso wie für die Lachse, die man hier sehr gut angeln kann, wie wir von Marcis wissen.
Siedlungsspuren aus der Steinzeit

Ein klatschendes Geräusch verrät den Biber, der mit seinem flachen breiten Schwanz ins Wasser sprang. Zwei entspannte Gänsesäger dürfen wir beim Schwimmen überholen. Die korpulenten braun-weiß-grauen Entenvögel nisten gern in kleinen Höhlen – ob in Bäumen oder Felsen. Manche der Naturskulpturen sind so dicht bewachsen, dass wir sie erst erkennen, wenn wir vorüberfahren. Die Ķūķu-Klippen sehen wir bereits von Weitem: Bis zu 43 Meter ragen sie direkt am Ufer in die Höhe. So alt die bunten Steine alle sind: Die Form der Landschaft ist verhältnismäßig jung. Denn ihren letzten, maßgeblichen Schliff verpassten ihr die Eismassen der Weichsel-Kaltzeit, welche erst vor rund 10.000 Jahren endete. Flora und Fauna kehrten wieder. Den Tieren, die sie jagen konnten, folgten bald die ersten menschlichen Bewohner. Siedlungsspuren aus der Steinzeit finden sich in Lettland vielerorts – wie etwa im Dorf Āraiši am gleichnamigen See.

Sobald die Paddeltour zu Ende ist und Marcis unser Kajak aufgeladen hat, bringt uns der nette Bootsverleiher mit dem Auto hin. Denn unser Ziel liegt auf dem Weg nach Cēsis, wo später außer Kunst und Kneipen auch ein malerischer Burg- und Schlossberg auf uns wartet. Lange residierte dort der Livländische Ordensmeister. Eine Nebenburg stand seit dem 14. Jahrhundert in Āraiši.
Orte mit viel Geschichte
Von ihren einst zwei Meter dicken Mauern blieb nur wenig übrig. Heute ist der Burgberg mit der schönen Aussicht Teil eines Museumsparks – wie auch Meitu Sala. Auf diesem Inselchen im Moor am Rand des Dorfes fand man viele Tausend Jahre alte Artefakte, Werkzeug und Keramik. Anhand von Funden aus dem ganzen Umland rekonstruierte man diverse stein- bis eisenzeitliche Gebäude.
Dass der Ort als Hotspot früher Nationalgeschichte gilt, liegt jedoch vor allem an der Wasserburg, ab anno 830 errichtet und bewohnt von alten Lettgallen, lettischer Urbevölkerung wie Liven oder Kuren. Die komplett aus Holz rekonstruierte Pfahlbausiedlung auf einer Sandbank im Āraišu-See basiert auf Ausgrabungen, an denen ab 1877 auch der Berliner Arzt und Forscher Rudolf Virchow mitarbeitete, wie er auch an der Gründung mehrerer Museen beteiligt war, darunter der des Museums für Völkerkunde in Berlin.

Im Uferdickicht zwitschern Schilfrohrsänger. Entlang des Weges ist der See mit Teichrosen bedeckt. Die 15 Blockhäuser der Wasserburg bereits im Blick, tönt uns lebendige lettische Volksmusik entgegen. Am Eingang einer Hütte sitzen, singen, musizieren drei Frauen in der regionalen Tracht von Vidzeme, einmal mehr ein Ausdruck regionaler Identität und kultureller Tradition. Es sind Dace, Līga, Ilva vom Ensemble „Dzieti“. An freien Tagen kommen sie nach Āraiši und lassen sich von dem geschichtsträchtigen Ort und seiner herrlichen Umgebung inspirieren.
Durchs Fernglas gut zu sehen: Da fliegt ein Kranichpaar. Kaum sichtbar durch das dichte Laub blitzt in der Ferne kurz ein gelbes Kajak auf. Zusammen mit der Gauja, auf der es sich bewegt, verschwindet es in deren Urstromtal unter den buschigen und spitzen Mischwaldwipfeln. Und schon ist alles wieder grün in Lettlands „Mittelerde“.