Der Koalitionsvertrag steht, die Spitzen von CDU/CSU und SPD sind stolz auf ihr Werk. An der Basis der Parteien sieht man das nicht so eindeutig. Ende des Monats soll alles unter Dach und Fach sein.
Vier Wochen haben sie gebraucht, erst in großen Arbeitsgruppen, dann im kleinen Spitzenkreis. Jetzt steht der Koalitionsvertrag, 144 Seiten stark. Die Spitzen von Union und SPD zeigten sich zufrieden über ihr Werk. Jetzt hängt es noch an den Parteien. Die CSU hatte es nicht nur besonders eilig, sondern auch einfach. Es brauchte nur die Zustimmung des erweiterten Parteivorstands, und die kam bereits einen Tag nach Vorstellung der schriftlichen Vereinbarungen. Bei der großen Schwester CDU soll ein „kleiner Parteitag“ darüber befinden, und bei der SPD gibt es gleich eine Mitgliederbefragung aller knapp 400.000 Genossinnen und Genossen.
Der kleine CDU-Parteitag am 28. April in Berlin wird noch mal als Ventil für den aufgestauten Frust in den breiten Gliederungen der CDU herhalten müssen. Dieser ist vielschichtig, zu allererst ist es die Enttäuschung über das Ergebnis am Wahlabend. 28,6 Prozent sind zwar schon besser als 24,2 Prozent vom September 2021, aber eben nicht die erwarteten 35 Prozent, nicht einmal mindestens eine „3“ vorne.
Die Manöver in der Migrationspolitik während des Wahlkampfs haben offensichtlich nicht dazu geführt, Wählerinnen und Wähler von der AfD zu gewinnen. Im Gegenteil wanderten gut eine Million Unionswähler zur AfD. Außerdem zog Friedrich Merz mit dem Antrags- und Abstimmungsmanöver erhebliche Proteste auf sich und seine Partei, nicht zuletzt auch aus den Reihen der SPD. Zudem sorgte Merz noch kurz vor der Wahl mit Äußerungen für erheblichen Ärger bei den Grünen. Für viele Beobachter unverständlich, war doch absehbar, dass die Union auf mindestens eine, womöglich sogar beide zur Regierungsbildung angewiesen sein könnte.
In der eigenen Partei hat sich erheblicher Unmut breitgemacht, als Merz nach der Wahl in atemberaubendem Tempo Bekenntnisse zur Schuldenbremse hinter sich ließ. Nun bestreitet kaum jemand die Notwendigkeit massiver Investitionen in Bundeswehr und Infrastruktur, aber die „Schuldenorgie“ irritiert und verärgert die, die zuvor noch für etwas anderes gekämpft haben.
„Wir haben im Wahlkampf in der Kälte genau das Gegenteil den Wählerinnen und Wähler gesagt“, heißt es wörtlich in einem Brandbrief der Jungen Union Köln. Selbst der bislang weitgehend unbekannte Vorsitzende der Jungen Union, Johannes Winkel, tauchte plötzlich per „Süddeutscher Zeitung“ im Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit auf und erklärte, dass es gut sein könnte, dass sein Jugendverband diesen „sozialdemokratischen Kurs“ des Bundesvorsitzenden auf dem kleinen Parteitag nicht mittragen werde.
Für die CDU ein doppelter Schmerz: erst ein mäßiges Wahlergebnis weit hinter den Erwartungen und dann noch maßgeblich die Handschrift der Sozialdemokraten (und der Grünen) bei weitreichenden Entscheidungen, die die nächsten Jahre prägen werden. Und das noch vor Einstieg in die eigentlichen Koalitionsverhandlungen. Dem CDU-Beauftragten für Mitglieder, Philipp Amthor, lief eine virtuelle Mitglieder-Konferenz reichlich aus dem Ruder, so groß war der Frust. Trotzdem dürfte eine Zustimmung zum Koalitionsvertrag auf dem kleinen Parteitag (30. April) nicht wirklich gefährdet sein.
Die Basis entscheidet und grummelt
Zwar ist in den Augen der CDU-Basis nicht gerade der große Politik-Wechsel herausgekommen, aber ein paar Punkte kommen ihr doch entgegen. Die Senkung der Körperschafts- und Einkommensteuer für kleine und mittlere Einkommen vermutlich in zwei Jahren. Die Strompreise sollen gesenkt und das Lieferkettengesetz soll gekippt werden, alles reine Unionsforderungen. Ebenfalls wichtig: Die Migration soll weiter erschwert werden. In Abstimmung mit den europäischen Nachbarn sollen Asylsuchende an den Grenzen zurückgewiesen, der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre ausgesetzt werden. Die Schnell-Einbürgerung nach drei Jahren wird gestrichen, ebenfalls das Bürgergeld für neue Flüchtlinge aus der Ukraine.
Das aber sind nun genau die Punkte, die bei der SPD-Basis gar nicht gut ankommen. Die schnelle Einbürgerung von Migranten war ein Herzensanliegen der SPD in der Ampel-Regierung und wurde der FDP abgerungen – nun wird sie von der Union kassiert. Vor allem der linke Flügel bei den Genossen ist vergnatzt. Weiterer Aufreger nicht nur an der Basis, sondern auch in den Gremien der Sozialdemokraten: Aus dem Bürgergeld soll eine Grundsicherung werden. Auch das Bürgergeld war ein Herzensanliegen, weil sich Sozialdemokraten damit von den bleiernen Hartz-IV-Debatten freischwimmen konnten, die so viel Ärger, verlorene Wahlen und Erfolge für die Linken über fast zwei Jahrzehnte zur Folge hatten. Nachvollziehbar also die Sorge, dass nun wieder ein altes Fass aufgemacht werden könnte, wenn aus dem Bürgergeld eine Grundsicherung wird.
Die geplanten Maßnahmen mit Sanktionen und Kürzungen und größerem Druck zur Arbeitsaufnahme wecken bei vielen schon von der Wortwahl her ungute Erinnerungen an Gerhard Schröders „Fordern und Fördern“.
Doch es sind nicht nur diese inhaltlichen Bedenken, es ist die Person des zukünftigen Bundeskanzlers selbst, die viel Antipathie an der sozialdemokratischen Basis weckt. Obwohl er der SPD in den Koalitionsverhandlungen aus der Sicht der Union bis zur Schmerzgrenze entgegengekommen ist, gilt er als Gegenmodell zu Angela Merkel, also als konservativer Hardliner. Dazu kommt, dass er nicht nur ein Mann ist, der aus der Wirtschaft kommt, sondern aus der Welt des Großkapitals. Immerhin war er in der Chefetage des größten Hedgefonds der Welt: Black-Rock.
So einen Multimilliarden-Investor titulierte der ehemalige SPD-Chef Franz Müntefering seinerzeit als Heuschrecke, und nun sollen die Sozialdemokraten einen ehemaligen Heuschrecken-Boss ins Bundeskanzleramt verhelfen. Nicht nur für den linken Flügel, sondern auch für gestandene Alt-Genossen eine empfundene Zumutung, hegen doch viele von ihnen den Verdacht, dass vor zehn, 15 Jahren ihr Arbeitgeber von so einer Heuschrecke aufgekauft wurde und sich danach ihr Arbeitsplatz in Luft aufgelöst hat. Unabhängig davon ärgert so manchen Genossen, dass das Mitgliedervotum mitten in die Osterferien fällt (Ende am 28. April). Mancher mag sich da andere Lektüre als einen Koalitionsvertrag vorgenommen haben.
Aber auch Friedrich Merz musste seine Zeitpläne revidieren. Er hatte noch am Wahlabend in Aussicht gestellt, dass eine neue Regierung bis Ostern stehen sollte. Immerhin steht der Koalitionsvertrag dafür.
Allerdings steht noch nicht endgültig das Personal – auch wenn von Tag zu Tag aus Spekulationen zunehmend Gewissheit wird, wer an den Spitzen der sechs CDU-Ministerien (plus Kanzleramt), sieben SPD- und drei CSU-geführten Häusern stehen wird.