Vietnam zählt heute zu den beliebtesten Reisezielen in Südostasien. Neben klassischem Strandurlaub kann man sich aber auch auf die Spuren des Vietnamkriegs begeben, die heute noch an vielen Stellen zu sehen sind.

Noch immer ist der Fahrer nicht zurück. Vermutlich verhandelt er immer noch hinter dem Kleinbus mit dem Polizisten. Die Führerin hatte bei der Abfahrt angekündigt, man werde gegen 19 Uhr von der Tour zurück sein. Die Dame im Reisebüro von Hue hatte hingegen versichert, die Fahrt wäre gegen 17 Uhr zu Ende und der Nachtzug nach Ho-Chi-Minh-Stadt somit bequem erreichbar. Und nun hängt der Bus bereits nach einer Stunde fest. Erst war es nordwärts gegangen. Noch vor der Querung des durch den Krieg prominent gewordenen 17. Breitengrades war der Bus landeinwärts in waldreiches Hügelland abgebogen. Vor einem der ersten Dörfer hatte die Polizeipatrouille gestanden und den Wagen zur Seite gewunken.
Im Bus sitzt ein knappes Dutzend Touristen aus Europa, überraschenderweise meist junge Leute, die den Tages-Trip in die einst demilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südvietnam gebucht haben, auf der Suche nach den Spuren eines Krieges, der vor genau 50 Jahren zu Ende gegangen ist. Endlich kommt der Fahrer zurück, der Grund für die Kontrolle bleibt unbekannt. Jedenfalls schärft der Fahrer unserer Führerin ein, nicht mehr auf dem Vordersitz kniend nach hinten zu erzählen.
Panzer mit Spitzname „Wahlmaschine“

Und sie erzählt viel: Von ihrem Vater, der gegen seinen Willen in der südvietnamesischen Armee kämpfen musste, von ihrem Aufwachsen im wiedervereinigten Vietnam. Sie erzählt vom Krieg, von den Franzosen, die sich zurückzogen aus dem ehemaligen Indochina und den USA, die sich berufen fühlten, anschließend hier die freie Welt gegen den Kommunismus zu verteidigen. Zuvor schon, 1954, war Vietnam offiziell in zwei Teile zerfallen, in den kommunistischen Norden und den demokratischen Süden. Beide Vietnams wurden seitdem immer autoritärer regiert.
Es wird ein Stellvertreter-Krieg: Die Sowjets unterstützen den Norden, die USA den Süden. Nordvietnam infiltriert den Süden mit Kämpfern, den Vietcong. Die USA setzen das giftige Entlaubungsmittel Agent Orange ein, um die geschützten Verbindungswege der Gegner aus der Luft erkennen zu können. Es ist ein mehr als zehn Jahre dauernder, grausamer, verbissener Krieg.
Der Bus fährt langsam auf eine Straßenkreuzung mitten in der Wildnis zu. Zur Linken zweigt eine Straße über eine imposante Hängebrücke, die Dakrong-Brücke, ab, einst ein strategisch wichtiger Punkt. Denn sie war Teil des Wegenetzes, das unter dem Namen Ho-Chi-Minh-Pfad bekannt ist. Mehrfach wurde die Brücke zerstört und ebenso oft wieder instandgesetzt oder neu gebaut.
Nach wenigen Kilometern hügelan biegt der Bus in einem Dorf auf eine schmale Straße ab und hält kurz darauf an einem Freilichtmuseum des Krieges: Khe Sanh. Manche sprechen von der erbittertsten Schlacht des Vietnamkriegs. Die Amerikaner hatten einen Stützpunkt mitten im Bergland errichtet, mit einer noch heute bestehenden Landebahn von 1,3 Kilometern Länge, eine Festung, die sie für uneinnehmbar hielten. Und doch wurde sie 1968 von 40.000 Nordvietnamesen 170 Tage lang, wenn auch mit großen Verlusten, belagert.
Dabei handelte es sich nur um ein Ablenkungsmanöver vor der Tet-Offensive zum vietnamesischen Neujahr. Nach der Belagerung gaben die USA diesen Stützpunkt auf.

Es ist still in Khe Sanh. Die Sonne brennt auf die teils überwachsene Landebahn. Laufgräben und MG-Stellungen zeichnen das Verteidigungssystem der Amerikaner nach. Hölzerne, grüne Munitionskästen stapeln sich am Rand. Kriegsgeräte dämmern im Gras: eine bauchige C-130 Hercules, in der zwei Kampfpanzer Platz haben, zwei Hubschrauber.
Zwischen den Bäumen steht neben einem verrosteten Kampfpanzer M48 ein leicht gepanzertes Fahrzeug für den Mannschaftstransport. In einem solchen Gefährt soll der erste südvietnamesische Präsident auf seiner Flucht ermordet worden sein. Zwölfmal wechselte danach der Präsident, und das nie freiwillig. Davon erzählt der dritte Panzer. Er wurde auch von der südvietnamesischen Armee verwendet, die Bevölkerung gab ihm den Spitznamen „Wahlmaschine“. Denn immer wenn ein Umsturz mit Präsidentenwechsel bevorstand, tauchte dieser Panzer im Straßenbild auf.
Im kleinen Museum am Rande der Landebahn hat sich ein Michael Havard aus Houston, Texas, eingetragen: „In Erinnerung an die Opfer, erbracht von allen Seiten auf der Suche Vietnams nach Wiedervereinigung und Unabhängigkeit. Lasst uns alle daran erinnern, dass die tiefsten Wunden des Krieges den Weg freimachen können für einen anhaltenden Frieden.“
Krieg selbst um die Brückenfarbe

Nach dem Mittagessen holpert der Bus zurück. Die Führerin gehört zur chinesischen Minderheit der Hoa und heißt praktischerweise auch Hoa. Sie legt amerikanische Hits aus jener Zeit ein, Musik aus den 60er- und 70er-Jahren, die von den GIs gehört wurde, wenn sie nicht gerade kämpfen mussten. Die Zeile „Have you ever seen the rain comin’ down on a sunny day?“ aus dem Klassiker von Creedence Clearwater Revival deutet sie mit dem Bombardement durch B52-Flugzeuge, die so hoch flogen, dass man sie nicht sah und deren plötzlich herabregnende Bomben man nicht hörte.
Kurz nach Erreichen der Nord-Süd-Straße kommen wir zur einstigen Grenze zwischen Nord- und Südvietnam. Wenige Meter neben der breiten Straße steht die damals einzige Verbindung etwas verloren in der Landschaft: Die schmale Hien-Luong-Brücke. Sie ist zur einen Hälfte blau und zur anderen Hälfte gelb gestrichen. Hoa erzählt, dass die 178 Meter lange Brücke von Südvietnam auf seiner Seite blau gestrichen wurde. Das tat Nordvietnam auf seiner Seite ebenfalls, um auf die Einheit des Landes hinzuweisen. Was dem Süden missfiel, der nun seinen Teil gelb lackierte. Gelb wollte aber der Norden nicht übernehmen, weil gelb als Nationalfarbe Südvietnams galt, weshalb man auf dieser Seite bei der blauen Farbe blieb. Seither ist die Brücke zur einen Hälfte blau, zur anderen gelb gestrichen. Auf der Brache rundum steht das verwitternde Mobiliar von damals: Fahnenmasten, Wachtürme und Lautsprecheranlagen zur ideologietriefenden Beschallung des Gegners jenseits der Demarkationslinie, auf der anderen Seite des Flusses Ben Hai.
Einseitige Erinnerung an Kriegsverbrechen
Wir befinden uns nun in der Mitte der einst zehn Kilometer breiten demilitarisierten Zone. Der Bus fährt ein Stück nach Norden und dann rechts Richtung Meer. In diesem Gebiet, das zu den am stärksten bombardierten Vietnams zählt, haben die Nordvietnamesen in nur zwei Jahren die Tunnel von Vinh Moc gegraben, ein dreistöckiges Höhlensystem unter der Erde: Im untersten Geschoss wurden Lebensmittel und Munition, sicher vor Bombardements, gebunkert, einen Stock darüber wurden Versammlungsräume angelegt, und gleich unter der Erde lagen die Wohnkojen, winzige Nischen für 300 Menschen, die hier bis zu sechs Jahre hausten. In den Tunnels wurden 17 Kinder geboren, die noch hier leben.

Es ist stickig und feucht, jedes Anstreifen an den Wänden der engen Gänge hinterlässt lehmige Spuren an der Kleidung. Weiter unten kommt man nur mehr barfuß voran: Wasser schießt von der Seite in den Gang, der hinaus ins Freie führt. Und da steht man plötzlich am Meeresufer. Doch stellt sich keine Urlaubsstimmung ein.
Der Bus fährt in der Abenddämmerung auf der Nord-Süd-Straße zurück nach Hue, wo er pünktlich um 19 Uhr ankommt. Die Zugfahrt nach Ho-Chi-Minh-Stadt ist gesichert. Dort finden sich da und dort noch Spuren aus der grausamen Vergangenheit: Der Präsidentenpalast, dessen Erstürmung durch die Nordvietnamesen am 30. April vor 50 Jahren das Ende der Teilung markiert. Das „Rex-Hotel“ als einstiger Sitz des US-Militärkommandos. Auf der luftigen Dachterrasse gaben die Amerikaner täglich ihre Presse-Briefings, intern der „17-Uhr-Unsinn“ genannt.
Vom Krieg erzählt auch das „Museum der amerikanischen und chinesischen Kriegsverbrechen“. Seit mit den USA gute Beziehungen gepflegt werden, heißt es allerdings Kriegsrelikte-Museum. Ausführlich werden hier die Schicksale von Journalisten und ihre Pressefotos dargestellt, darunter jenes berühmte mit dem vor den Angriffen davon laufenden nackten „Napalm-Mädchen“. Kriegerische Überbleibsel vom Granatwerfer M1 bis zu erbeuteten US-Panzern findet man im und um das Museum. Allerdings keine Informationen zu den Gräueln, die von der anderen Seite, von Vietcong und Nordvietnam, begangen wurden.