Kalifornische Forscher entwickelten ein neuartiges Therapeutikum gegen Bisse von Giftschlangen. Der synthetisch hergestellte Antikörper schützt vor tödlichen Giftcocktails aus der Familie der Giftnattern.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Schlangenbisse unter die wichtigsten vernachlässigten Gesundheitsthemen eingeordnet. In der Bundesrepublik, wo neben der vom Aussterben bedrohten Aspisviper im Südschwarzwald, die dank ihres markanten Rückenmusters selbst für Laien leicht erkennbare Kreuzotter die einzige Giftschlange ist, sind Schlangenbisse kein größeres Problem. Laut der im niedersächsischen Salzhemmendorf ansässigen Deutschen Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde, die die Kreuzotter zum „Reptil des Jahres 2024“ gekürt hat, sind in Deutschland Schlangenbissunfälle in freier Natur sehr selten und für gesunde Menschen kaum gefährlich oder tödlich: „Die Bisse können schmerzhaft sein und zu lokalen Symptomen wie Schwellungen führen.“
Jährlich fünf Millionen Bisse
Gänzlich anders und teils ziemlich dramatisch präsentiert sich das Problem der Bisse von Giftschlangen in anderen Regionen dieser Welt, wobei vor allem Menschen in Asien, Afrika, Lateinamerika und Ozeanien betroffen sind. Denn laut Angaben der WHO werden jährlich weltweit mehr als fünf Millionen Erdenbürger von Schlangen gebissen. Bei 1,8 bis 2,7 Millionen Fällen kommt es dabei zu Vergiftungen, wobei diese bei rund 138.000 Personen tödlich enden. Bei jährlich bis zu 400.000 Menschen haben Schlangenbisse bleibende Schäden von Gliedmaßen-Amputationen bis Sehverlust zur Folge. Kein Wunder, dass schon seit vielen Jahren nach einem universalen Gegenmittel geforscht wird, das gegen die potenziell tödlichen Giftcocktails verschiedenster Schlangenarten helfen könnte, wobei die giftigsten Exemplare vor allem zwei Familien, nämlich den Giftnattern (Elapidae) und Vipern (Viperidae), angehören. Allerdings sind von den schätzungsweise mehr als 3.000 Schlangenarten über 600 als giftig einzustufen.
Die Vielzahl der Schlangengifte macht die Suche nach einem universell einsetzbaren Immunserum, einem sogenannten Antivenin oder Antivenom, ziemlich schwierig. Die bisherige Praxis der Gewinnung von Gegenmitteln ist nach rund 100 Jahren schon fast als historisch zu bezeichnen. Außerdem sind die dabei gewonnenen Gegengifte in der Herstellung und Lagerung meist teuer, teils unzuverlässig (wegen zuweilen zu niedriger Konzentration therapeutisch wirksamer Antikörper), mit Risiken bei der Verabreichung verbunden, in ländlichen Regionen, wo die meisten Menschen gebissen werden, kaum verfügbar und zudem in der Wirksamkeit nur auf das Gift einer ganz speziellen Schlangenart oder allenfalls noch auf eng mit ihr verwandte Arten abgestimmt. Gewonnen werden die Antivenome in der Regel noch immer auf die altbewährte Art: Pferden, Rindern oder auch Schafen werden geringe Mengen eines Schlangengifts verabreicht. Die Tiere bilden dagegen Antikörper, die aus dem Blutserum isoliert werden und anschließend Menschen als Gegenmittel appliziert werden können. Wobei das menschliche Immunsystem das Mittel als körperfremd erkennt und manche Menschen daher mit der Ausbildung eines anaphylaktischen Schocks oder der sogenannten Serumkrankheit (einer nicht gerade seltenen Immunreaktion mit Fieber oder Gelenkschmerzen) reagieren.
Es gab in der Vergangenheit schon einige vielversprechende Versuche mit Kombinations-Antivenins, keines konnte jedoch überzeugen. Daher ist die Euphorie, mit der in nahezu sämtlichen Publikationen das neue Therapeutikum als erster entscheidender Schritt zu einem Universalmittel gegen Schlangengift gefeiert wurde, fehl am Platz. Denn ob die Substanz wirklich halten kann, was die jüngst im Fachjournal „Science Translational Medicine“ veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern des kalifornischen Scripps Research Institute in La Jolla unter Federführung des Immunologen Joseph Jardine und der Biomedizinerin Irene Khalek versprochen hat, wird sich in nächster Zeit wohl noch herausstellen müssen. Um die Nachteile der bisherigen Gegengifte, die aus dem Plasma hyperimmunisierter Tiere gewonnen werden, ausgleichen zu können, werden die neuartigen Therapeutika gegen Schlangenbisse als sogenannte rekombinante Gegengifte entwickelt, die auf menschlichen sogenannten monoklonalen Antikörpern basieren. Von manchen dieser Antikörper wurde gelegentlich schon berichtet, dass sie Schlangengifte neutralisieren und daher einen großen therapeutischen Nutzen haben könnten.
Das kalifornische Forscherteam wählte für seine Untersuchungen die Schlangenfamilie der Giftnattern oder Elapiden aus. Zunächst begann man damit, das Gift zahlreicher Mitglieder dieser Schlangenfamilie mit den hochgefährlichen Vertretern Kobra, Mamba, Krait oder Taipan zu vergleichen und dabei etwaige Gemeinsamkeiten oder Überschneidungen zu entdecken. Obwohl jede Art einen ganz spezifischen Cocktail aus verschiedenen Giften produziert, konnten die Forscher bei all diesen Giftnattern doch eine Gruppe von Proteinen nachweisen, die sich in manchen Bereichen ähnelten und damit ein möglicher Angriffspunkt für ein Gegenmittel sein konnten. Denn gefährlich sind bei all diesen Giftschlangen insbesondere die nach ihrer dreigliedrigen Form benannten Drei-Finger-Toxine (3FTx), die unter anderem bei Biss-Opfern auf die Nerven, das Herz und teils auf Zellen und Gewebe wirken, wodurch Lähmungen hervorgerufen werden können. Immunologe Joseph Jardine und seine Kollegen stellten daher im Labor zunächst einmal verschiedene Drei-Finger-Toxine her, indem sie Gene für 16 verschiedene 3FTx in Säugetierzellen einschleusten, die anschließend dann die Toxine bildeten.
Die Wissenschaftler konnten feststellen, dass das Drei-Finger-Toxin des Vielgebänderten Kraits, der vor allem in Ostasien vorkommt, die größte Ähnlichkeit mit allen anderen zum Vergleich herangezogenen Giftproteinen hat. Im nächsten Schritt testeten sie mit einer eigens entwickelten Screening-Plattform, welche von etwa 60 Milliarden synthetischen Antikörpern, die auf dem Design menschlicher Antikörper beruhen, am besten an genau das Gift-Protein des Vielgebänderten Kraits andocken konnten. Bei rund 3.800 Antikörpern gab es einen Treffer.
Antikörper „95MAT5“
Nun wollte das Team noch überprüfen, welche dieser Antikörper auch noch bei vier weiteren Drei-Finger-Toxinen aus dem Labor aktiv werden konnten. „Wir konnten den sehr geringen Prozentsatz jener Antikörper identifizieren, die mit all diesen verschiedenen Toxinen reagierten“, so Irene Khalek. Dabei reduzierte sich die Zahl der Antikörper auf 30, worunter es einen eindeutigen Sieger namens „95MAT5“ gab, der an die sieben langkettigen Varianten der Toxingruppe 3FTx-L am besten andocken und dabei vor allem das langkettige Alpha-Neurotoxin, eines der giftigsten Bestandteile des Schlangenvenoms, neutralisieren konnte.
Den Antikörper 95MAT5 stellte das Team synthetisch her und testete seine Schutzwirkung an Mäusen, denen bestimmte Schlangengift-Stoffe oder auch Gift verschiedener Giftnattern wie der Königskobra, der Schwarzen Mamba, der Monokelkobra oder des Vielgebänderten Kraits injiziert wurden. Das Ergebnis war überzeugend, da der Antikörper 95MAT5 die Überlebensrate der Mäuse drastisch steigern konnte. Nur gegen das Gift der Königskobra bot der Antikörper keinen kompletten Schutz. Wofür das Forscherteam die Komplexität des Giftcocktails der Königskobra verantwortlich machte. Den generellen Schutzeffekt von 95MAT5 hatten die Forscher damit erklärt, dass der Antikörper jenem Rezeptor strukturell sehr ähnlich ist, an den die Giftproteine zur Auslösung der Nervenlähmungen normalerweise andocken, nämlich den sogenannten nikotinischen Acetylcholinrezeptor.
„Die Entdeckung und Entwicklung von 95MAT5 ist ein wichtiger erster Schritt in der Entwicklung eines universellen Gegengiftes auf monoklonaler Basis, da es einen der gängigsten und giftigsten Bestandteile des Schlangengifts wirksam neutralisiert“, so Irene Khalek. Es gibt dabei allerdings noch einen ganz zentralen Haken. Denn bei umfangreichen Tests und Folgeexperimenten mit dem Gift von Vipern stellte sich der Antikörper als wenig erfolgreich heraus. Demnach wirkt er gegen Elapiden. Um ein universelles Antivenom gegen alle Schlangengifte zu bekommen, braucht es laut den Wissenschaftlern daher wohl eine Kombination aus vier bis fünf Antikörpern.
Dafür möchten sie nun nach dem gleichen Prinzip weitere Antikörper gegen Vipern-Gifte finden. Sie glauben, dass die Kombination von zwei Antikörpern gegen Elapiden (neben 95MAT5 müsste also noch einer herausgefiltert werden) und zwei Antikörpern gegen Vipern „möglicherweise als universelles Gegengift gegen jede medizinisch relevante Schlange auf der Welt wirken könnte“, so Irene Khalek.
Der Hamburger Biologe Dr. Guido Westhoff, Vorsitzender des Vereins Serum-Depot Deutschland, ordnete die Ergebnisse der kalifornischen Studie als bahnbrechend ein: „Solche synthetischen Antikörper lassen sich einfacher und günstiger herstellen und wirken viel spezifischer und risikoärmer.“