Kaiserpinguin und Krill hinken mit ihrer biologischen Uhr dem Klimawandel um Millionen Jahre hinterher. In ihrer Arbeitsgruppe Ökophysiologie pelagischer Schlüsselarten untersucht Prof. Dr. Bettina Meyer Organismen in Polarregionen. Ein Gespräch über den Druck auf die Tierwelt in der klimaveränderten Antarktis.
Frau Prof. Dr. Meyer, Sie fokussieren sich auf Organismen, welche die Funktionalität polarer mariner Ökosysteme maßgeblich beeinflussen. Sie haben zur Überwinterung des Krill und seiner Assoziation zum Meereis habilitiert. Und Sie leiteten etwa 2018, im antarktischen Herbst, eine Expedition an Bord des Forschungsschiffes Polarstern: Waren Sie seither noch öfter vor Ort in der Antarktis?
Als ich 1999 im AWI anfing, unternahm ich fast jedes Jahr eine Expedition. Das hat sich auf alle acht bis zehn Jahre reduziert. Die 2018er-Forschungsreise war meine jüngste Expedition und die nächste plane ich für 2027.

Genügt es, die Antarktis in so großen Abständen anzusteuern?
Leider nicht. Wie sich gerade jetzt der Krill oder auch Pinguine und andere wichtige Arten und mit ihnen das Ökosystem verändern, kann man nur über einen längeren Zeitraum beobachten. Solche Veränderungen nehmen wir nicht wahr, wenn wir nicht regelmäßig mit Schiffen dort hinfahren, wo die Tiere zuhause sind. Der Antarktische Krill stellt mit bis zu 500 Millionen Tonnen die größte Biomasse aller mehrzelligen Wildtierarten auf dem Planeten dar. Im Südpolarmeer ist der Krill die zentrale Nahrung für zahlreiche Räuber wie Bartenwale, Robben, Pinguine, Fische und Seevögel. Doch er ist durch das sich verändernde Klima und den zunehmenden Fischereidruck bedroht. Wir müssen seinen Bestand und seine Anpassungsstrategien genau beobachten, um ihn und sein marines Ökosystem passgenau zu schützen.
In den letzten Jahren wurden schiffgestütze Monitoringprogramme aus finanziellen Gründen in der Antarktis, aber auch in vielen anderen Regionen, immer weiter zurückgefahren. Das finde ich sehr bedenklich, da uns dadurch wichtige Informationen fehlen, wie sich das Ökosystem verändert. Deutschland ist Mitglied in der Kommission für die Erhaltung der lebenden Ressourcen der Antarktis (CCAMLR), und ich bin die wissenschaftliche Vertreterin der deutschen Delegation. Da mein Forschungsschwerpunkt sich mit dem Antarktischen Krill beschäftigt, ging es für mich bei der Expedition 2018 auch um die Bestandsabschätzung und die klima-bedingte Populationsverschiebung des Antarktischen Krills.
Welche Folgen der Erderwärmung haben Sie vorgefunden, als Sie 2018 mit Ihrem Team kurz vor dem antarktischen Winter an 100 Stationen rund um die Antarktische Halbinsel das Verhalten von Krill und Salpen erforschten?
Wir sehen über einen längeren Zeitraum Veränderungen. Etwa, dass sich das Meereis viel später in der Saison bildet als in den 1990er-Jahren. Und das haben wir 2018 auch beobachtet. Die Expedition ging bis Ende April. Früher war es so, dass das Meereis im April angefangen hat, sich für den Winter zu bilden. Und das ist an der Halbinsel jetzt nicht mehr der Fall.
Da sich das Meereis später bildet, dringt das Licht länger in die Wassersäule ein. Das bedeutet, dass das Wachstum der mikroskopisch kleinen Algen im Wasser, das sogenannte Phytoplankton, länger anhalten kann. Deshalb stellen wir eine höhere Futterverfügbarkeit in der Wassersäule fest, weil Meereis den Lichteintrag weitestgehend verhindert.
Auch auf den Gletschern wird das Eis immer weniger. So steigt der Meerwasserspiegel immer weiter an, womit wir letztlich alle konfrontiert werden. Wie sich das Ökosystem insgesamt verändern wird, ist – noch – schwer zu sagen. Wir stehen mit unserer Forschung dazu erst am Anfang. Das heißt, wir sind noch nicht weit mit unseren erhobenen Daten, Modellen und Überlegungen, wie sich ein verändertes System letztendlich auf manche Organismen auswirkt. Daher ist es wichtig zu verstehen, wie sich die Organismen den sich verändernden Umweltbedingungen anpassen können.

Krilllarven sind unter dem Meereis an der Halbinsel zu finden: Ist zu befürchten, dass sie bei weniger Eis weniger werden?
Die Larven des Krills entwickeln sich über den Sommer und Winter, über elf Larvenstadien zum juvenilen Krill im anschließenden Frühjahr. Wenn im Winter Meereis vorhanden ist, dann steht den Larven direkt unter dem Meereis mehr Nahrung zur Verfügung als in der Wassersäule, da sie fressen müssen, um sich weiter entwickeln zu können. In Gebieten, wo das Meereis im Winter, heutzutage, weitestgehend ausbleibt, dringt mehr Licht in die Wassersäule ein. Das fördert das Wachstum des Phytoplanktons, das die Larven dann fressen können. Von früheren Untersuchungen wissen wir, dass sich die Krilllarven unter diesen Bedingungen, also auch ohne Meereisbedeckung im Winter, in einem guten Zustand befinden und nicht hungern.
Dann findet sich in der Antarktis Krill im Klimawandel besser zurecht als Pinguine?
Er ist nicht so spezialisiert wie etwa der Kaiserpinguin. Allerdings wissen wir, dass der Antarktische Krill eine innere Uhr hat, die ihm ab einer bestimmten Tageslänge im Spätsommer/Herbst sagt: „Jetzt musst du deinen Stoffwechsel runterfahren und von deinen Fettreserven leben, da es bald nicht mehr genug zu fressen gibt.“ Wir haben mit unseren Untersuchungen feststellen können, dass, wenn man erwachsenem Krill im Spätherbst und Winter höhere Konzentrationen an Nahrung anbietet, er diese, aufgrund seiner inneren Uhr, nicht verwerten kann. Das heißt, auch wenn das Ökosystem jetzt im Laufe des Jahres zum Winter hin mehr Nahrung vorhält, weil im Winter weniger Eis, aber noch genügend Licht vorhanden ist, nützt es zumindest dem Krill nicht.
Stört der schnelle Wandel den Krill so, dass er weniger fortpflanzungsfähig ist?
Die Antarktis ist ein extremer Lebensraum, wo wir im Sommer 24 Stunden Licht haben, was mit hoher Nahrungsverfügbarkeit verbunden ist. Im Winter haben beziehungsweise hatten wir eine ausgedehnte Meereisdecke und dementsprechend eine geringere Nahrungsverfügbarkeit. Daran haben sich die Organismen über Millionen von Jahren angepasst.
Mechanismen wie endogene Uhren, die auch wir selbst haben, sind ein sehr wichtiges Instrument, um sich an seine Umwelt optimal anpassen zu können. Aber innere Uhren können in Zeiten des Klimawandels natürlich auch einen Nachteil darstellen: Wenn eine innere Jahresuhr dem Krill mitteilt, dass in bestimmten Phasen im Jahr der Stoffwechsel runterzufahren ist, um weniger Energie zu verbrauchen, da nur wenig Nahrung vorhanden ist. Und ein Teil der Geschlechtsreife abgeschlossen sein muss, wenn die Phytoplanktonblüte im Frühjahr einsetzt. Da zur vollständigen Geschlechtsreife wichtige Fettsäuren aus den Phytoplanktonzellen benötigt werden. Dann hat es natürlich Auswirkungen auf den Reproduktionserfolg, wenn sich der Zeitpunkt der Phytoplanktonblüte verschiebt.

Und das ist schwierig, weil sich die Anpassungsprozesse von Organismen an ihre Umwelt über viele Millionen Jahre entwickelt haben?
Genau. Und das bedeutet ziemlich schlechte Karten für den Krill im Klimawandel.
Welche Tendenz zeigen Tiere und Ökosystem an der Antarktischen Halbinsel beziehungsweise im Südpolarmeer angesichts der fortschreitenden Erwärmung?
Die Umweltveränderungen geschehen viel schneller, als sich die Organismen genetisch optimal anpassen können. Und deswegen sehen wir eine Verschiebung von Organsimen in höhere, kältere Breitengrade. Der Antarktische Krill bewegt sich in Richtung der Antarktischen Halbinsel. Mitte der 1990er-Jahre hatten wir noch eine sehr hohe Krill-Biomasse um Südgeorgien herum. Auch die Prädatoren, die hauptsächlich Krill fressen, bewegen sich mit dem Krill in kältere Gebiete.
Entsteht durch Klima- und LebensÂraumwandel zu viel Druck auf Pinguine, Krill und andere Arten in der Antarktis?
Natürlich bewirkt diese Klimaveränderung Stress. Aber die Organismen nehmen sie nicht spontan, sondern in einer Entwicklung wahr. Wir sehen deshalb größere Verschiebungen von einzelnen Kolonien, von Organismen, die voneinander abhängig sind, wie zum Beispiel gewisse Pinguin- oder Robbenarten vom Krill.
Und was wir auch sehen ist, dass Kolonien einiger Pinguinarten abnehmen, aber andere zunehmen. Manche Arten benötigen steinigen Untergrund, um die Eier auszubrüten, andere wiederum festen Sand. Heutzutage ist der Sand, durch die steigenden Temperaturen und den damit verbundenen erhöhten Schneefall, nicht mehr fest, sondern matschig. Dort können diese Pinguine ihre Eier nicht mehr erfolgreich ausbrüten. Solche Stressfaktoren haben natürlich mit dem Klimawandel zu tun.

Leiden Tiere in der Antarktis so stark unter dem Klimawandel, dass Arten zurückgehen?
Wirklich extrem ist es beim Kaiserpinguin, der vom saisonalen Meereis vollständig abhängig ist. Kaiserpinguine brüten auf dem saisonalen Meereis im Winter. Das Eis sollte sich erst dann langsam auflösen, wenn die Jungtiere entwickelt und flügge sind. Aber dieses saisonale Meereis wird immer weniger. Das heißt, die Fläche, auf der die Kolonien brüten können, wird auch immer weniger. Und das gefährdet diese Pinguine sehr massiv. Der Kaiserpinguin ist in der Antarktis an manchen Stellen vom Aussterben bedroht, weil er so spezialisiert ist. Tiere, die in ihrem Lebenszyklus auf bestimmte Umweltfaktoren spezialisiert sind, sind am meisten gefährdet.
Was setzt den Krill-Beständen zu?
Wir sehen, dass seit den 1990er-Jahren der Krill zurückgegangen ist. Die wissenschaftliche Welt streitet sich, inwieweit. Ob es eher eine Kontraktion in höhere, kältere Breitengrade ist, also zur Antarktischen Halbinsel, oder ob die gesamte Biomasse massiv abgenommen hat. Die vorliegenden Daten sind diesbezüglich sehr widersprüchlich. Die Entwicklung ist bedenklich und mir bereitet es Sorgen, wenn ich sehe, dass – zusätzlich zum Klimawandel – der Bedarf der Krill-Fischerei beziehungsweise der Wunsch der Fischerei, zu expandieren, immer größer wird.
Deshalb müssen wir das Fischereimanagement ins 21. Jahrhundert bringen. Bisher schauen wir in erster Linie auf die Biomasse, die vorhanden ist, und auf die Entwicklung der Prädatoren. Das reicht nicht. Wir müssen auch auf den Organismus Krill selber schauen, wie sich die Population im Klimawandel entwickelt. Diese Erkenntnisse müssen einfließen. Plus die Erkenntnis, dass die Walpopulationen mehr werden. Wir wollen ja auch, dass sie noch mehr werden, und die fressen nun mal den Krill.
Wale, Robben und Pinguine fressen alle dieses kleine Krebstierchen. Und das ist auch für Kinder ganz leicht zu verstehen: Wenn dieser Krill gefährdet ist, hat es eine Auswirkung auf das Ökosystem. Neben dem Klimawandel wird ihm eine ansteigende Fischerei gefährlich, weil Krill als Nahrung für die wachsende Lachsindustrie verwendet wird. Zudem wird Krillöl für Nahrungsergänzungsprodukte hergenommen. Die Nachfrage danach steigt stetig an. Durch den Krill nehmen manche Firmen sehr viel Geld ein.
Die Krill-Fischerei wird sehr gut kontrolliert von der Kommission für die Erhaltung der lebenden Ressourcen der Antarktis (CCAMLR). Aber gerade jetzt, in Kombination mit dem Klimawandel und den ganzen Veränderungen, die wir sehen, muss das Fischereimanagement weiter verbessert werden.
Aufgrund der geopolitischen Lage sind notwendige Veränderungen schwierig umzusetzen. In der CCAMLR müssen alle Beschlüsse in einem Konsensus, also einstimmig, entschieden werden.

Was können wir tun?
Wir sollten Lachs, der aus Aquakulturen stammt, nicht kaufen: Damit kann jeder einen Beitrag leisten. Die Politik muss am Artenschutz in der Antarktis dranbleiben: Um Veränderungen quantifizieren zu können, ist es wichtig, Langzeiteinrichtungen zu haben. Wir brauchen Konzepte, die über viele Jahrzehnte laufen. Die Tendenz in der Politik ist nicht so: Die neue Bundesregierung hat am zweiten Tag gleich den Meeresbeauftragten im Umweltministerium abgeschafft. Und solche schnell getroffenen, politischen Entscheidungen bereiten mir Sorgen: Denn der Klimawandel hört nicht nach einer Wahlperiode von vier Jahren auf.
Es ist wichtig, Langzeit-Beobachtungssysteme in der Antarktis zu ​etablieren, um Veränderungen in der Krillpopulation und die vom Krill ​abhängigen Räuber zeitnah erfassen zu können. Es ist wichtig, dass wir aus der Forschung Maßnahmen antragen und Meeresschutzzonen, etwa von deutscher Seite das Meeresschutzgebiet Weddellmeer, versuchen umzusetzen.
Machen Sie sich als erfahrene Biologin, Polar- und Meeresforscherin, ausschließlich Sorgen um die Tierwelt und das Ökosystem an der Antarktischen Halbinsel, oder gibt Ihnen etwas Hoffnung?
Etwas Positives ist mir besonders aufgefallen, seit ich in diesen Regionen arbeite: Die Wale haben massiv zugenommen. Und das ist toll. Früher, als ich seit 1999 die ersten Male in die Antarktis gefahren bin, habe ich natürlich auch Wale gesehen. In erster Linie Buckelwale und Zwergwale. Da habe ich nie Finnwale entdeckt und auch nie große Ansammlungen von Walen. Aber mittlerweile kann man dies in vielen Regionen beobachten. Das ist toll anzusehen. Das sind Lichtblicke, und das ist positiv hervorzuheben, in all diesem Elend des Klimawandels, dass zumindest die Wale sich peu à peu wirklich erholen.