Gran Turismo, so hießen früher bequeme und gut motorisierte Reiselimousinen, idealerweise mit hubraumstarkem Sechs- oder Achtzylinder. Der neue elektrische Kia EV6 zeigt, dass man für die Langstrecke keinen Verbrennungsmotor mehr braucht.
Mit dem Elektroauto bis ans Mittelmeer – das kann ein riskantes Wagnis sein. 1.000 Kilometer und mehr abreißen, das klappt vielleicht mit einem Diesel. Aber mit einem batteriebetriebenen Auto? Da winken viele ab und setzen sich lieber in ihren TDI. Umfragen zeigen, dass die Angst vor zu geringer Reichweite für E-Autos in Deutschland nach wie vor eine große Hürde für die Kaufentscheidung ist. Nicht mit uns – wir fahren mit dem neuen Kia EV6 von Berlin an die italienische Riviera. Das fesche Crossover-SUV war schon in seiner Erstauflage (seit 2021) durchaus reisetauglich. Jetzt haben die Koreaner den Mittelklasse-Stromer noch einmal gründlich überarbeitet. Dabei geht das „Facelift“ weit über eine optische Verjüngungskur hinaus. Der Energieschub für den Akku (von 77 auf 84 kWh) bringt nicht nur mehr Reichweite – die von uns getestete Long-Range-Variante schafft bis zu 580 Kilometer (WLTP). Möglich wurde dies durch eine höhere Energiedichte der Akkuzellen. Beeindruckend ist auch die Ladeleistung mit 800-Volt-Betriebsspannung: Im Peak sind nun um die 260 kW drin (vorher circa 200 kW), die allerdings nur über ein paar Minuten gehalten werden. Danach geht es rasch wieder herunter auf unter 200 kW. Trotzdem vergehen beim Ladehub von 20 auf 80 Prozent nur 15 Minuten. So schnell ist man auf der Autobahnraststätte kaum vom Toilettengang und dem Kaffeeholen zurück.
In 15 Minuten von 20 auf 80 Prozent
Für unseren Roadtrip in den Sommerferien haben wir vier Wochen Zeit. Zwischenstation ist ein Campingplatz im Allgäu, wo wir uns mit Freunden treffen. Danach geht es weiter nach Ligurien. Südlich von Genua haben wir uns in einem Ferienhaus mit Meerblick eingemietet. Schon auf den ersten Autobahnkilometern nach Abreise wird klar: Den Vergleich mit vergleichbar stark motorisierten Verbrennern muss der Kia EV6 nicht scheuen. Sein Auftritt ist sportlich, der Hecktriebler mit großem Akku hat 229 PS. Damit lässt sich der Zweitonner flott bewegen: Bei Vollstrom geht’s in 7,7 Sekunden von 0 auf 100.
Um den Akku zu schonen, halten wir uns an die Richtgeschwindigkeit von 130 Kilometern pro Stunde. Das spart nicht nur Energie, ohne Raserei lässt es sich auch viel entspannter reisen. Also Tempomat an und der Sonne entgegen. Tatsächlich kommen wir auch mit dem freiwilligen Tempolimit schnell voran. Nach ein, zwei kurzen Ladestopps in Sachsen-Anhalt und Franken erreichen wir mit dem Kia EV6 das Westallgäu an der Grenze zu Österreich. Hoppla, das geht ja richtig fix. Doch wird die Kraft des Elektromotors auch für den Ritt über die Alpen reichen?
Belüftung in den Vordersitzen
Welchen qualitativen Sprung Elektroautos auf der Langstrecke gemacht haben, zeigt eine Rangliste des ADAC. Die Top-Performer schaffen inzwischen 500 Kilometer mit einer Akkuladung, wobei der Porsche Taycan mit 513 Kilometern auf Platz eins liegt. Direkt dahinter folgt mit 502 Kilometern schon der Hyundai Ioniq 6, der sich mit dem Konzernbruder Kia EV6 die technische Plattform teilt.
Für elektrische Reiseautos ist hier aber noch ein zweiter Faktor entscheidend: die Ladegeschwindigkeit. Schon das Vor-Facelift-Modell des Kia EV6 war nicht langsam, in 20 Minuten „tankte“ es Strom für 250 Kilometer. Der neue EV6 hingegen speichert mit dem großen Akku in der gleichen Zeit Strom für 345 Kilometer und katapultiert sich damit auf Platz drei der Top-E-Autos für die Langstrecke.
Auch optisch macht unser Testwagen was her. Stylisch sind die LED-Leuchtbänder an Front und Heck. Dazu kommen Metallic-Lackierung in Aurora-Schwarz und große Aluräder. Die Ausstattungslinie „GT Line“ umfasst zudem Extras wie Sportpedale, Solarglas-Frontscheibe und eine elektrisch verstellbare Lenksäule, die besonders für große Fahrer sinnvoll ist.
Ein Highlight sind die bequemen und auf Knopfdruck belüfteten Vordersitze: So steigt man auch nach längeren Strecken erfrischt und ohne Rückenschmerzen aus dem Fahrzeug.
Dank 350 Newtonmeter-Drehmoment spurtet der Kia EV6 auch steile Anstiege in den Alpen locker hoch. Geht es abwärts, wird die Batterie aufgeladen. Die Energierückgewinnung lässt sich beim EV6 per Lenkradwippe in vier Stufen einlegen. Maximal ist One-Pedal-Driving möglich – das heißt, das Auto verzögert so stark, dass man kaum das Bremspedal treten muss.
Freilich lässt sich Kia die Performance des Kia EV6 etwas kosten. Das Einstiegsmodell Air mit kleinerer 63-kWh-Batterie und 428 Kilometern Reichweite ist ab 44.990 Euro zu haben. Die Long-Range-Variante mit dem großen 84-kWh-Akku und 528 Kilometern Reichweite gibt es ab 50.000 Euro. Kommen wie bei unserem Testwagen einige Extras hinzu, sind über 60.000 Euro fällig. Top-Modell ist die Sportversion EV6 GT mit 650 PS (ab 69.990 Euro). Dessen brachiale Kraft geht allerdings mit einer reduzierten Reichweite einher.
Auch bei Infotainment und digitalen Features hat Kia nachgelegt. Neu ist beim EV6 etwa das System „Connected Car Navigation Cockpit“, das im EV9 Premiere feierte und angenehm benutzerfreundlich ist. Der Online-Dienst Kia Connect bietet nun auch Musikstreamingdienste wie Amazon Music. Karten- und andere Software-Aktualisierungen kommen über Over-the-Air-Updates.
Nervig dagegen sind – wie so oft und nicht nur bei Kia – unausgereifte Fahrassistenzsysteme. Auch der optimierte Kia EV6 hatte im Test Probleme, Verkehrszeichen richtig zu erkennen. Der adaptive Tempomat leistete sich ebenfalls öfters Patzer, etwa wenn er das Fahrzeug auf der Autobahn plötzlich stark abbremste, ohne dass Gefahr bestand. Überfordert zeigte sich zudem der Kollisionswarner, der das Rangieren in einem engen italienischen Parkhaus praktisch unmöglich machte.
Serienmäßig beim Kia EV6 ist das üppige Raumangebot. Eine fünfköpfige Familie findet in dem Reiseauto bequem Platz. Dazu kommt überraschend viel Stauraum auf der Ladefläche. Wo es bei anderen SUV schnell eng wird, schluckt der Crossover locker zwei große Koffer und dazu die eine oder andere Tasche. Für besonders sperrige Güter lässt sich die Rücksitzbank in zwei Teilen umklappen.
Weite Reisen sind kein Problem mehr
Dazu kommen ein exzellentes Fahrwerk und eine gute Dämmung. Selbst bei höherem Tempo auf der Autobahn dringen wenig Außengeräusche ins Wageninnere. Dazu trägt die Aerodynamik des EV6 bei, der CW-Wert von 2,8 ist für ein SUV recht gut. Das kommt dem Verbrauch zugute. Insgesamt 3.350 Kilometer spulten wir mit dem Kia EV6 ab. Bei unserer Rückreise nach Berlin zeigte der Bordcomputer einen Durchschnittsverbrauch von 18,2 Kilowattstunden an. Für eine Reise mit hohem Autobahnanteil ist das ein recht guter Wert – zumal das Fahrzeug davon größtenteils voll beladen war. Die versprochenen bis zu 580 Kilometer Reichweite sind aber kaum zu schaffen, es sei denn man bewegt den EV6 nur im Stadtverkehr. Im Mix – also mit Autobahn- und Landstraßenanteil – sind eher 400 bis 450 Kilometer realistisch.
Weil der Kia EV6 so enorm schnell lädt, ist die Langstrecken-Performance insgesamt trotzdem herausragend. Dazu trägt auch eine wachsende Ladeinfrastruktur bei, Schnellladesäulen mit 300 kW und mehr fanden wir entlang der Autobahnen eigentlich immer genug.
Dutzende Ladekarten brauche man mit einem Elektroauto, heißt es von E-Auto-Kritikern häufig. Auf unserer Reise von Berlin an die italienische Riviera reichte uns exakt eine einzige Ladekarte, in diesem Fall von Ionity. Das zeigt: Die Ladeinfrastruktur ist schon ordentlich ausgebaut, das vermeintliche Chaos von zig Apps und Anbietern ein Mythos.
Unser Fazit: Weite Reisen sind mit einem Elektroauto wie dem Kia EV6 kein Problem mehr. Wir haben jedenfalls Motorlärm und Benzinpfützen nicht vermisst. Sagen also bald mehr Reisende: Ciao, Verbrenner?