Aufmerksamkeit ist wertvoll. Freude, Liebe, gute Arbeit – all das ist ohne sie nicht denkbar. Doch die Zeiträume, in denen wir aufmerksam sein können, werden immer kleiner. Ein Kollektiv aus New York will den Blick wieder auf echte Aufmerksamkeit lenken.

Eine Straßenecke in Brooklyn, New York City. Autos hupen, Menschen huschen über die Bürgersteige, es ist wie immer viel los hier in dem vielleicht buntesten Part der Stadt, die die Lichter nie ganz ausmacht. Berlin hat seine Spätis, New York seine geliebten Bodegas, diese oft von Menschen aus der Karibik geführten Läden, die Toilettenpapier genauso im Angebot haben wie Lotto-Scheine, Bier oder Pan con Bistec, Steakrollen nach kubanischer Art. Ein paar Meter von so einer Bodega entfernt stehen ein paar Menschen, die wie eingefroren wirken. Sie blicken still auf dieses lebende Wimmelbild, in dem sonst niemand innehält.
Die Stillstehenden machen nichts – und doch ganz viel. Sie trainieren etwas, das in der heutigen Welt immer seltener und fragmentierter wird: echte, ungeteilte Aufmerksamkeit.
Graham Burnett beschreibt diese Szene im Videocall. Er ist Wissenschaftshistoriker in Princeton, Künstler und Aktivist. Burnett hat die „Friends of Attention“ mitgegründet, ein, wie er sagt, „verrückter Guerilla-Underground von Kreativen“. Der Ansatz: Es gibt kein gutes Leben ohne Aufmerksamkeit. Das Werkzeug: radikale Aufmerksamkeit leben – und die Idee in die Welt bringen.
Aufmerksamkeit ist, grob gesagt, die Fähigkeit des Gehirns, bestimmte Reize oder Informationen selektiv wahrzunehmen und andere auszublenden. Junge Eltern reagieren aufmerksamer auf Babylaute, in einem lauten Restaurant hört man seinen Namen aus dem ansonsten unverständlichen Gesprächsknäuel am Nebentisch heraus. Aufmerksamkeit ist eine zentrale Fähigkeit des Gehirns. Ohne sie könnte man sich in einer komplexen Umwelt nicht zurechtfinden, die Reize der Welt würden ungefiltert ins Gehirn strömen und es überlasten. Hinter der gesteuerten Aufmerksamkeit stehen mikroskopisch kleine Prozesse, bei dem der präfrontale Kortex bestimmte Neuronen im Gehirn bewusst ansteuert, während andere in eine Art Pause-Zustand gesetzt werden.
Überlastung des Gehirns
Wer seinen vollen Fokus auf ein Buch, die Gartenarbeit, sein Gegenüber oder einen inneren Gedanken richtet, ist darin vollkommen vertieft. Deswegen werden Phasen großer Aufmerksamkeit manchmal auch als Flow bezeichnet.
Neben der Abwehr von äußeren Reizen hat die Aufmerksamkeit noch weitere Aufgaben: Informationen können in aufmerksamen Phasen besser gespeichert werden, die Leistungen sind besser. Indem wir unsere Aufmerksamkeit bewusst auf Gedanken und Gefühle lenken, können wir sie verstehen und verarbeiten. Dies trägt zur psychischen Gesundheit und emotionalen Stabilität bei.
Wir brauchen Aufmerksamkeit – wir brauchen aber auch Pausen von ihr. Denn wenn man sich auf einen Sinneseindruck oder eine Aufgabe konzentriert, ist das mit erheblicher kognitiver Anstrengung verbunden und nur für eine beschränkte Zeit möglich. Ohne Pausen lässt die Aufmerksamkeit nach oder wandert zu anderen Themen.
Studien zeigen, dass wir insgesamt immer unaufmerksamer werden. Die US-Forscherin Gloria Mark etwa hat festgestellt, dass Arbeitende am Bildschirm noch vor zwanzig Jahren zweieinhalb Minuten lang ihren Fokus auf ein Thema richten konnten – heute gehen ihre Studien von durchschnittlich 47 Sekunden aus.
Bei vielen piept und vibriert es unentwegt, ploppen Whatsapp-Nachrichten, E-Mails, Push-Mitteilungen oder Hinweise aus Teamarbeit-Programmen wie Slack auf. Wir werden überschwemmt mit Dingen, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen.

Dabei brauchen wir sie doch selbst so nötig – für alles, was wir mit Freude, Leidenschaft und Erfolg angehen wollen.
Die Ablenkung hat Methode: Tech-Konzerne verdienen Geld, indem sie die Interaktionen und Verweildauer der Nutzenden auf ihren Plattformen zu Geld machen, weil sie dann mehr Werbung verkaufen können. Nur ein Beispiel: Der Facebook-Mutterkonzern Meta hat besonders mit Facebook und Instagram im Jahr 2023 rund 131,9 Milliarden US-Dollar an Werbeeinnahmen generiert.
Graham Burnett beschreibt es so: „Unser Verstand wird gefrackt.“ Burnett sitzt zum Videocall in seinem loftähnlichen New Yorker Apartment, die Haare an den Seiten rasiert und oben zu einem Zopf gebunden. Beim Reden reibt er sich manchmal die Hände, die Ringe an seinen Fingern schlagen klackernd aneinander, er hat an jedem Finger mindestens einen. „I love you“, ruft er einmal beim Gespräch. Und schiebt dann trocken in die Kamera hinterher: „Ich mag dich, aber ich liebe meine Partnerin.“ Das ist die Filmemacherin Alyssa Loh, eine Mitstreiterin bei den „Friends of Attention“, die gerade abseits der Laptopkamera die Wohnung verlassen hat.
Burnett mag dieses Fracking-Bild, das er gefunden hat. Damit beschreibt er, wie Big Tech mit immer größerem Druck die Aufmerksamkeit aus den Nutzern herauspressen würden, so wie die großen Fossilkonzerne Gas und Öl aus Gesteinsschichten holen, weil die einfach blubbernden Quellen längst ausgebeutet sind. In unserer heutigen Aufmerksamkeitsökonomie pumpe also eine riesige Industrie uns ununterbrochen mit Hochdruck und hoher Lautstärke Fracking-Mittel ins Gesicht – in Form endloser Inhalte, die uns an unseren Geräten festhalten, sagt Burnett. „Und dieses heftige Pumpen bringt die Gischt, den Schaum unserer Aufmerksamkeit an die Oberfläche, der dann gebündelt und an den Meistbietenden verkauft werden kann. Das ist schlecht für die Menschen – so wie das Fracking von Erdöl schlecht für den Planeten ist“, sagt Burnett.
Burnett will nicht nur beschreiben und anklagen. Er will auch etwas tun gegen das Fracken unseres Verstands und hat die „Friends of Attention“ mitgegründet – ein Kollektiv von Forschenden, Aktivisten und Künstlern, das sich im Anschluss an die São-Paulo-Biennale 2018 gebildet hat und seitdem „Attention Activism“ propagiert. Die Graswurzelbewegung mit dem Zentrum New York will nichts weniger, als die Kontrolle über unsere Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. Die Gruppe versteht sich nicht als eine Anti-Technologie-Bewegung, sondern dringt eher auf einen bewussten und kreativen Umgang mit Medien und Technologie. Die Friends of Attention sehen in der Fähigkeit zur bewussten Konzentration sogar eine Grundlage für Freiheit und eine gesunde Gesellschaft.
„Maschinelle Wachsamkeit“
Graham Burnett ist im Hauptberuf Wissenschaftshistoriker, hat sich mit dem Zusammenhang von Kartografie und Kolonialismus genauso beschäftigt wie mit Descartes und arbeitet aktuell an einem Buch über die wissenschaftliche Erforschung der Aufmerksamkeit. Deren erste Vermessung datiert er zum Ende des 18. Jahrhunderts, als Astronomen für exakte Sternenkarten den Himmel, ihre Uhren und ihre Aufzeichnungen zeitgleich im Blick haben mussten. Im späten 19. Jahrhundert entwickelten Forschende Labortests, um Aufmerksamkeit zu messen. Später habe sich die wissenschaftliche Forschung hauptsächlich auf die Art von Aufmerksamkeit konzentriert, die etwa in Verbindung mit Instrumenten funktioniert – an Radarsystemen oder im Cockpit eines Kampfjets. Kein Wunder, waren die Auftraggeber damals oft Militärs. „Maschinelle Wachsamkeit“, nennt Burnett das, was die Forschenden damals messen wollten. Heute wissen die Maschinen, wie sie Nutzer wach und in den Systemen halten können – um damit Geldeinnahmen zu generieren.

Die Forschung zu anderen Ausprägungen der Aufmerksamkeit, ihrer Bedeutung, ihrer Wirkungsweise, ist nicht sonderlich ausgeprägt. Burnett, ganz Historiker, vergleicht die Ausbeutung der Aufmerksamkeit, wie er das nennt, mit der Ausbeutung in der Frühphase der industriellen Revolution, etwa in den „Teufelsmühlen von Lancashire“, wo Menschen unter unmenschlichen Bedingungen in der Baumwollindustrie schuften mussten. Heute schafften eben die Tech-Konzerne Bedingungen, die dem menschlichen Wohlergehen zuwiderlaufen. „Wir wissen das. Und wir müssen neue Formen des Widerstands entwickeln.“ Wie dieser Widerstand aussehen wird? Das weiß auch Burnett nicht, und blickt wieder auf die Industrialisierung und sagt, dass auch die frühen Widerständler im Fabriksystem noch nicht wussten, wie sich etwa eine Gewerkschaftsbewegung für ein besseres Leben der Arbeitenden einsetzen könnte.
Widerstand und Aktivismus waren in der Industrialisierung harte Arbeit – hatten aber zumindest einen klaren Adressaten und sichtbar Leidende. Das ist bei der Aufmerksamkeit schwieriger. Um die Graswurzelbewegung wachsen zu lassen, haben die Friends of Attention die Strother School of Radical Attention (Sora) gegründet. Im Sora Sanctuary, im angesagten Dumbo-Viertel zwischen der Brooklyn Bridge und der Manhattan Bridge, geht es darum, „Zufluchtsorte der Aufmerksamkeit“ zu errichten, so heißt es jedenfalls bei der Gruppe. Die Gedanken sind groß hier im hippen Künstlerviertel mit den atemberaubenden Ausblicken auf die Skyline von Manhattan, seinen alten Backsteinlagerhäusern und seinen kreativen Gemeinschaften.
Doch die Übungen sind ganz geerdet. Mit Attention-Lab-Workshops geht es durch die Straßen New Yorks, man liest gemeinsam Texte von Audre Lorde, beobachtet eine der Bodegas mit ihrem günstigen Essen aus aller Welt hier in Brooklyn, richtet seinen Blick auf einen Gegenstand, bleibt stehen – und schaut, wohin die Gedanken und der Fokus weiterziehen, wenn man selbst im Augenblick verweilt. Teilnehmende sollen Werkzeuge an die Hand bekommen, um radikale Aufmerksamkeit leben zu können. Im Zentrum steht deren gemeinsame Erforschung.
„Wir haben verlernt, unsere Aufmerksamkeit zu schenken, zu teilen“, sagt Burnett. Diese Schule bietet kostenlose Workshops und Programme an, die Menschen ermutigen sollen, sich gegen die „Aufmerksamkeitsökonomie“ zu stellen. Motto: Play attention statt pay attention.
„Verrückt, was man manchmal verpasst“
An der Strother School gibt es die Sidewalk Studies, also die geführten Spaziergänge durch die Stadt. Die liegen in der Tradition des Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt, dem Begründer der Spaziergangswissenschaften. In anderen Seminaren geht es darum, in Familien Rückzugsräume für Aufmerksamkeit zu schaffen oder Lesetechniken zu lernen. Ein weiteres Feld sind die Hörübungen. Ein Audio-Stück läuft, Musik, Geräusche, Töne, DJ-Kompositionen. Ein paar Minuten dauert das Stück, viermal hören es die Teilnehmenden, tauchen ein, machen sich Notizen, tauschen sich darüber aus. Beim ersten Hören ist die Vorgabe: einfach zuhören, beim zweiten Mal soll man sich auf das Wiedererkannte konzentrieren, beim dritten Mal nur auf das Neue und beim vierten Mal ist die Vorgabe: „Don’t listen“ – nicht zuhören. „Es ist verrückt, was man manchmal verpasst, auf was man achtet, wie sich die Aufmerksamkeit wandelt, wenn sich der Fokus ändert“, sagt Burnett. Wenn man beispielsweise bei einer solchen Übung erst beim zweiten Mal hört, dass Vogelstimmen dabei sind – was entgeht einem da sonst noch in dieser Welt?
Die Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit kann man trainieren, man kann sie entwickeln – das ist der Kern der menschlichen Freiheit, sind sich die Friends of Attention sicher.
Der Fokus auf mehr selbst gelenkte Aufmerksamkeit soll aber keine neue Form der Selbstoptimierung sein. Den Friends of Attention geht es um mehr als um das Individuum. Die ständige Zerstreuung und der mediale Konsum beeinflussen nach ihrer Ansicht nicht nur das persönliche Leben, sondern verringern auch unsere Fähigkeit zu Gemeinschaft und Reflexion. Die Pflege der Aufmerksamkeit ist also nicht nur Selbstfürsorge, sondern ein Akt politischer Verantwortung. Und: Es sind nicht die bösen Konzerne allein. In einer Essay-Sammlung, die Burnett im Vorjahr mitherausgegeben hat, heißt es etwa: Es liege nicht an den Innovationen, dass unser Leben schneller, rastloser, fragmentierter wird. „Menschen machen die Technologie“, und diese Entwicklungen entstehen, weil es Bedürfnisse und Wünsche gebe nach Ablenkung, nach Zerstreuung, nach Bestätigung.

Die Friends of Attention wollen die radikale Aufmerksamkeit in die Welt bringen. Die Graswurzelbewegung wächst, längst nicht mehr nur in New York. Die Strother School etwa arbeitet mit zahlreichen Einrichtungen zusammen, Burnett und seine Mitstreiter sind viel unterwegs. Und die Worte, die Gedanken verbreiten sich. An der Leuphana Universität in Lüneburg konnte man im Sommer „Mindful Writing in the Morning“ lernen – das Angebot bezog sich direkt auf Burnetts Arbeit. Der will sein Thema in Hörsäle bringen, aber auch in Kneipen, Ausstellungen und Schulen. Anstatt über die nachlassende Aufmerksamkeit von Schülern zu klagen, sollte man sie lieber gleich zum Thema machen.
Die Friends of Attention haben zwölf Thesen zur Aufmerksamkeit herausgebracht. In einer heißt es: „Es gibt bereits Zufluchtsorte für echte Aufmerksamkeit. Sie sind jetzt unter uns, aber sie sind vom Aussterben bedroht.“ Man müsse sie pflegen, sich Zeit nehmen, sagt Burnett. Zeit für Paper Art, das Gärtnern, Sport, Kochen mit Freunden, das Basteln im Hobbykeller, Kunstwerke – alles, in das man versinken könne. Graham Burnett fordert: „Lasst uns diese Zufluchtsorte finden, lasst uns diese Zufluchtsorte schaffen, wo die Fracker nicht an uns herankommen können.“