Trotz Kaderumbruch und Trainerwechsel im Sommer zeigt der Trend bei Regionalligist VSG Altglienicke bereits nach oben.
Schon vor dem Topspiel gegen den FC Carl Zeiss Jena am 11. September sah sich Semih Keskin genötigt, ein wenig auf die Euphoriebremse zu treten.
Da hatte die VSG Altglienicke zuvor zwei Pflichtspiele deutlich gewonnen – erst am fünften Spieltag der Regionalliga Nordost in Zwickau (3:0), dann im Berliner Landespokal gegen Ligakonkurrent Viktoria (6:1). „Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir bodenständig bleiben“, fing der erst vor der Saison zur VSG gekommene Trainer Spekulationen ein, dass ein Sieg gegen den bis dahin verlustpunktfreien Tabellenführer aus Thüringen dem eigenen Neuaufbau noch mal richtig Fahrt verleihen könnte. „Wir hatten vor der Saison 18 Abgänge und eben so viele Neuverpflichtungen – da kostet es Zeit und auch Kraft, die entsprechende Entwicklung zu nehmen.“ Lange Zeit hatte der inzwischen 35-Jährige dabei für Viktoria Berlin erst erfolgreich in der Jugend gearbeitet und dann das Regionalligateam trainiert. Die Lichterfelder waren nach einem Jahr Dritte Liga eine Klasse tiefer unter neuen Vorzeichen angetreten, in erster Linie als Ausbildungsverein mit Keskin als „Chefentwickler“ der vielen Talente. Im zweiten Jahr erreichte man den beinahe schon sensationellen dritten Platz, dennoch sah der Trainer im Sommer 2024 die Zeit gekommen für einen Abschied aus seiner sportlichen Heimat – hin zu einem Verein, der nachhaltigere Ambitionen vertritt.
Das ist die VSG, die vom Umfeld her zwar bescheidener ausfällt als Viktoria mit der größten Jugendabteilung Deutschlands, aber finanziell sehr stabil aufgestellt ist. Seit Jahren mischen die Altglienicker in der Regionalliga Nordost jedenfalls vorne mit, Platz sechs in der abgelaufenen Saison stellte dabei die schwächste Platzierung der letzten fünf Jahre dar. Auch bei der VSG wollte man so dieses Jahr einen Cut machen – und konnte Keskin dafür gewinnen: „Ich hatte mehrere Angebote, mich dann aber für das spannende Projekt Altglienicke entschieden“, verriet der Übungsleiter. Denn: „Bei der VSG wollen wir einen neuen Weg einschlagen, und mit großen Umbrüchen habe ich Erfahrung.“ Ein stilbildendes Mittel, das den Verein in den vergangenen Jahren stets gekennzeichnet hat, war die Verpflichtung des ein oder anderen „Ex-Profis“: namhafte Spieler wie Kevin Pannewitz, Torsten Mattuschka (inzwischen Sportdirektor im Club), Chinedu Ede oder Boubacar Sanogo – um nur einige zu nennen – sollten dem in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer eher unter dem Radar fliegenden Verein mehr Aufmerksamkeit verschaffen.
Trennung von teuren Altstars
Solche Prominenz sucht man im diesjährigen Kader vergebens: So trennte man sich vor der Saison etwa von Akaki Gogia, Marvin Pourié oder Anthony Roczen. Einziger verbliebener Spieler dieser Kategorie ist Philipp Türpitz (33, früher unter anderem Magdeburg), der seit Januar 2023 dabei ist und inzwischen die Kapitänsbinde trägt. Zur Stabilisierung der Problemzone in der Defensive (46 Gegentore 2023/24) wurden dabei zwei vielleicht weniger bekannte, aber dennoch erfahrene Akteure geholt: Patrick Kapp (27, VfB Stuttgart II) spielte schon bei Viktoria in der Dritten Liga und Maurice Trapp (32, Mainz 05 II) sogar mit Osnabrück und dem 1. FC Union in der Zweiten Liga. Die weiteren Zugänge aber sind fast ausnahmslos jünger als Kapp: Grace Bokake (22, Schalke II) Phil Butendeich (24, FSV Luckenwalde), Arnel Kujovic (22, Energie Cottbus) und auch der ballgewandte Eren Öztürk (20, Karlsruher SC) könnten so im Mittelfeld den Verlust von Topscorer Tolcay Cigerci (nach Cottbus) aufwiegen. Und im Sturm verstärkte man sich mit Manassé Eshele (25) von Vizemeister Greifswalder FC, der nach sechs Partien für die VSG bereits drei Torerfolge vorweisen konnte. Da Trapp und Türpitz – ebenso wie Stammtorwart Lino Kasten, für den kurzfristig noch der erfahrene Luis Zwick vom Berliner AK geholt wurde – verletzungsbedingt bislang nicht so zum Zug kamen, sprangen dazu altgediente Defensivspieler wie Tobias Gunte, Shawn Kauter oder Ugur Tezel in die Bresche.
Der unmittelbare Start in die Liga wirkte dabei misslungen: gegen Lok Leipzig, das vergangene Saison mit Platz zehn nur schwach abschnitt, setzte es eine 0:1-Heimniederlage – und bei Aufsteiger FC Eilenburg (0:0) blieb man zunächst weiter ohne Torerfolg. „Unsere beiden ersten Widersacher hatten allerdings auch wenig Veränderungen im Kader“, wies Trainer Keskin auf diesen Vorteil gerade zu Saisonbeginn hin – der 1. FC Lok stand nach dem achten Spieltag sogar an der Tabellenspitze der Regionalliga Nordost. Ausgerechnet gegen seinen Ex-Verein Viktoria gelangen dann beim 2:1-Arbeitssieg die ersten Tore und der Premieren-Dreier für die VSG und dessen neuen Coach. Der Durchbruch war das aber noch nicht, vielmehr rutschten die Treptower nach zwei Niederlagen ohne Torerfolg gegen Drittliga-Absteiger Hallescher FC (0:1) sowie Hertha BSC II (0:2) zwischenzeitlich auf Rang 16 ab. Der erwähnte „Big Point“ des 3:0-Siegs in Zwickau führte die Altglienicker dann aber in ruhigeres Fahrwasser, auch wenn Semih Keskin in aller Deutlichkeit formulierte: „Bis jetzt bin ich nicht zufrieden – wer ist das schon bei sieben Punkten aus sechs Spielen?“
Doch gegen den FC Carl Zeiss Jena lieferte seine Mannschaft ab, ging zunächst zur Pause in Führung und musste sich nach zwei Gegentoren zu Beginn des zweiten Durchgangs erst einmal schütteln. Außenstehende dürften den Berlinern zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel zugetraut haben, doch sie trafen in den letzten Minuten noch dreimal und siegten mit 4:2. Eine beachtliche Leistung auch angesichts von 13 Treffern in drei Pflichtspielen. Die folgende Partie beim SV Babelsberg 03, die dritte binnen sieben Tagen, endete dann jedoch wieder torlos. „Ich glaube, dass wir nicht mehr so die Frische hatten“, räumte der Trainer ein. Dabei waren der VSG zwei Tore (eins davon zu Unrecht) wegen Abseits aberkannt worden, zweimal traf man nur die Latte. So standen die Berliner vor dem Heimspiel gegen ZFC Meuselwitz mit elf Punkten im Mittelfeld der Liga – „aber die letzten Partien haben schon gezeigt, wo der Trend hingeht“, unterstreicht Keskin. „Dennoch wollen wir der Mannschaft weiterhin auch die Zeit geben, sich nach und nach zu entwickeln.“