Die Politkarriere von Marine Le Pen ist vorerst auf dem Abstellgleis. Ein Gericht hat der Rechtspopulistin wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder die Wählbarkeit zeitweilig entzogen. Sie sieht sich in der Opferrolle.
Das Urteil des französischen Gerichts in Paris vom 31. März dürfte die politische Karriere von Marine Le Pen höchstwahrscheinlich ausgebremst haben. Das Aushängeschild des rechtsradikalen Rassemblement National (RN) sowie acht weitere Parteimitglieder und Europaabgeordnete, unter ihnen Parteivize Louis Aliot, wurden wegen jahrelanger systematischer Veruntreuung öffentlicher Gelder und Scheinbeschäftigung verurteilt. Dazu kommen zwölf ehemalige EU-Parlamentsassistenten. Betrug mit System im großen Stil. Marine Le Pen erhielt eine Freiheitsstrafe von vier Jahren, zwei davon auf Bewährung und zwei mit elektronischer Fußfessel, eine Geldstrafe in Höhe von 100.000 Euro. Und das wohl schlimmste für sie: fünf Jahre Entzug des passiven Wahlrechts mit sofortiger Wirkung. Das heißt im Klartext, dass sie bei den geplanten Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2027 nicht kandidieren darf. Ihr Mandat in der Nationalversammlung darf sie dagegen behalten.
Urteil löst Kontroverse aus
Dies wirbelt jedoch die politische Landschaft in Frankreich gehörig durcheinander, die Tragweite ist noch gar nicht richtig abschätzbar. Die heute 56-Jährige gilt in regelmäßig durchgeführten Umfragen als derzeit aussichtsreichste Kandidatin um das höchste Amt Frankreichs. Dreimal ist sie bereits angetreten, dreimal gescheitert, sie hat dem RN einen neuen Anstrich und Namen verpasst, ihn beim französischen Wahlvolk salonfähig und zur stärksten Partei in der Nationalversammlung gemacht. Da wundert es kaum jemanden, dass die Juristin nun in die Offensive geht und das Urteil ungeachtet der richterlichen Begründung als einen Angriff auf die Demokratie darstellt. Ihr politisches Lebenswerk steht auf dem Spiel. Der Prozess und das Gerichtsurteil seien für sie von Anfang an rein politisch motiviert gewesen, um ihre Kandidatur 2027 zu verhindern, hieß es. Ihr mögliches politisches Karriereende könnte eine Zäsur für den Rassemblement National bedeuten, der alles auf die Karte Marine Le Pen gesetzt hat und, wie es scheint, vorläufig einen herben Rückschlag erlitten hat, auch wenn das Urteil noch lange nicht das Aus für den rechtsradikalen RN bedeutet.
Welche Möglichkeiten hat Marine Le Pen nun, sich gegen dieses Urteil zu wehren? Sie hat angekündigt, in Berufung zu gehen, und sie könne laut Aussagen des Politikwissenschaftlers Benjamin Morel den Verfassungsrat anrufen, der die Verfassungsmäßigkeit ihrer Strafe überprüfen soll. Außerdem kann sie Rechtsbeschwerde einlegen mit dem Ziel der Aufhebung der sofortigen Vollstreckung des Wahlausschlusses. Le Pens Problem ist allerdings die Zeit, denn alle Anfechtungen und Berufungen dauern lange und für eine mögliche Kandidatur 2027 reicht es wohl nicht – ungeachtet des Ausgangs bei Ausschöpfung aller möglichen Rechtsmittel. Das weiß auch Marine Le Pen und hat am Tag der Urteilsverkündung im französischen Fernsehen sofort auf Attacke umgestellt. Sie sieht sich als Opfer eines abgekarteten Spiels der französischen Justiz, die aus ihrer Sicht nicht unabhängig geurteilt hätte und somit eine Gefahr für die Demokratie darstelle. Harter Tobak, denn die erwiesene Straftat der systematischen Veruntreuung öffentlicher Gelder in Höhe von rund 4,6 Millionen Euro im Zeitraum zwischen 2004 und 2016 durch den RN sowie die fehlende Reue im Laufe des Prozesses rücken damit in den Hintergrund. Der Verlust des passiven Wahlrechts ist in Frankreich bei erwiesener Korruption und Veruntreuung übrigens seit 2016 gängiges Recht und wurde bei anderen Politikern bereits angewandt.

Das Urteil wurde in der politischen Landschaft unterschiedlich aufgenommen. Während rechtsradikale und nationalkonservative Politiker in Europa wie der Ungar Viktor Orbán, der Italiener Matteo Salvini oder der Niederländer Geert Wilders erwartungsgemäß ins gleiche Horn stießen wie Marine Le Pen, zeigt sich in Frankreich selbst ein differenziertes Bild. Die Auswirkungen dieses Urteils werden wohl noch lange nachwirken, immerhin ist RN die größte Oppositionspartei in Frankreich und Marine Le Pen das Gesicht dieser Partei schlechthin.
Beim RN könnte nun die Stunde von Le Pens Ziehsohn Jordan Bardella schlagen. Der Parteivorsitzende und Europaabgeordnete ist mit 29 Jahren allerdings ein politisches Leichtgewicht und gilt selbst in den eigenen Reihen als relativ unerfahren im Politgeschäft. Nach außen hin hält der RN allerdings weiter an Le Pen fest und befeuert das Narrativ des politisch motivierten Urteils. Bardella spricht sogar von der Hinrichtung der Demokratie in Frankreich und ruft zu frankreichweiten Protesten auf.
Franzosen uneinig über Bewertung des Urteils
Dem RN zur Seite springen auch der Linkspopulist und Gründer von La France Insoumise, Jean-Luc Mélenchon, genauso wie der Fraktionschef der Konservativen Les Républicains in der französischen Nationalversammlung, Laurent Wauquiez. „In einer Demokratie ist es nicht gesund, dass eine gewählte Abgeordnete nicht mehr zur Wahl antreten darf. Politische Debatten sollten an der Wahlurne entschieden werden. Das Urteil ist nicht der Weg, den man hätte wählen sollen.“ Und selbst Premierminister François Bayrou zeigte sich angeblich irritiert und überrascht von der Härte des Urteils.
Die Vorsitzende der französischen Grünen, Marine Tondelier, warnt dagegen vor den Angriffen auf die Justiz, vor allem von denjenigen, die sich um das höchste Amt im Staat bewerben. Das sage viel über deren Verständnis des Rechtsstaates aus. Diese Entscheidung sei keine politische Entscheidung, pflichtet ihr Rémy Heitz bei, Generalstaatsanwalt am höchsten Gericht Frankreichs, dem Cour de Cassation. „Die Justiz ist nicht politisch, diese Entscheidung ist keine politische, sondern eine gerichtliche Entscheidung, die von drei unabhängigen, unparteiischen Richtern getroffen wurde.“
Und wie reagiert das französische Wahlvolk auf das doch überraschende Urteil? Laut einer jüngsten Umfrage des Instituts Elabe sind 42 Prozent der Befragten mit dem Urteil einverstanden, 29 Prozent unentschieden und 29 Prozent dagegen. Bis zur nächsten Präsidentschaftswahl dauert es zwei Jahre und es fließt noch viel Wasser die Seine hinunter. Einige Namen für eine mögliche Kandidatur kursieren bereits in der Öffentlichkeit so wie Edouard Philippe, Bürgermeister von Le Havre und Premierminister in der ersten Amtszeit von Emmanuel Macron. Die Namen Olivier Faure, Generalsekretär der Sozialisten, oder Parteigenosse und Europaparlamentarier Raphaël Glucksmann tauchen immer wieder auf. Und da wären ja auch noch der Fraktionsvorsitzende der Macron-Partei Renaissance, Gabriel Attal, und der derzeitige Justizminister Gérald Darmanin. Neben Bardella vom RN, Tondelier von den Grünen und Wauquiez von den Konservativen könnten selbst die Altgedienten wie Mélenchon, 73, und Ex-Präsident François Hollande, 70, nochmals ihren Hut in den Ring werfen. Und wer weiß, welche Überraschungen unsere französischen Nachbarn noch bereithalten. Es bleibt auf jeden Fall spannend.