Am 9. Oktober wird in Niedersachsen vermutlich die letzte Große Koalition in einem deutschen Landesparlament abgewählt. Damit würde eine parlamentarische Koalitions-Ära enden, die über ein Jahrzehnt politisch in Bund und Ländern dominierte.
Lang hat sich der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) mit Kritik an dem von der Bundesregierung geschnürten Entlastungspaket zurückgehalten. Der 63-Jährige wollte seinem politischen und auch persönlichen Freund und Bundeskanzler Olaf Scholz nicht in den Rücken fallen. Doch Weil ist im Wahlkampf und bekommt dort hautnah den Unmut der Bevölkerung zu spüren.
Bereits der SPD-Wahlkampfauftakt nach den Sommerferien in einem Biergarten in der Landeshauptstadt Hannover war nur noch unter äußersten Schwierigkeiten für Weil zu meistern. Buhrufe und Trillerpfeifen machten es dem amtierenden Ministerpräsidenten fast unmöglich, zu seinem Wahlvolk verbal durchzudringen. Als zwei Wochen später Olaf Scholz zu seinem ersten von zwei geplanten Wahlkampfauftritten in die Kugelbaake-Halle nach Cuxhaven kam, wurde diese vorsorglich durch ein massives Personalaufgebot einer privaten Sicherheitsfirma abgeriegelt. Zu diesem Zeitpunkt bestimmten die Energiekriese und die geplante Gasumlage zwar schon die Schlagzeilen, von einem dritten Entlastungspaket war aber noch gar nicht die Rede.
Weil kritisiert Entlastungspaket
Mitte September ist es nun da, die Länder und Kommunen sollen sich mit mindestens 20 Milliarden daran beteiligen. Stephan Weil bekommt das bei seiner Wahlkampftour quer durch Niedersachsen hautnah zu spüren. Es sind aber nicht nur Querdenker oder die sonst üblichen Provokateure von ganz rechts oder links. Landräte, Ortsvorsteher und die örtlichen Kämmerer nehmen ihren SPD-Landesvater zur Seite und schildern die bedenkliche Gemütslage der Genossen vor Ort. Kurz: Das Geld zum Entlastungspaket ist auf dieser Ebene schlicht nicht vorhanden. Immer wieder hört man von gestandenen Sozialdemokraten den Ausspruch: „Ein Glück ist am 9. Oktober Landtagswahl. Acht Wochen später bräuchten wir gar nicht mehr antreten." Mit diesem Hintergrund-Murren von der Basis übt als erster SPD-Ministerpräsident nun auch Stephan Weil im Bundesrat offen Kritik an dem Entlastungspaket. Er hält bereits zu diesem Zeitpunkt auch mit seinen Zweifeln an der Gasumlage nicht weiter hinterm Berg. Sorgen um den prominentesten Arbeitgeber Niedersachsens aber muss er sich kaum machen: Volkswagen ist erst einmal von höheren Kosten nicht betroffen – im Gegenteil. Der Konzern, der eigene Kraftwerke betreibt, wollte in diesem Jahr von Kohle auf Gas umsteigen. Da er derzeit noch auf Gasbezugsrechten sitzt, veräußert er laut „Handelsblatt" diese jetzt und erlöst damit geschätzte 400 Millionen Euro.
Die Gasumlage aber scheint sich aufzulösen, noch bevor sie zum 1. Oktober kommen sollte. Das dritte Entlastungpaket wird in seiner ursprünglichen Form wahrscheinlich nicht umgesetzt. Auch der niedersächsische Ministerpräsident wird in den anstehenden Bund-Länder-Runden mit dem Bund dafür sorgen, dass eine Einigung nicht vor dem Wahltermin zwischen Nordsee und Harz zustande kommt. In den letzten Umfragen hat sich das ganz offenbar ausgezahlt. Laut Infratest-dimap liegt die SPD derzeit bei 32 Prozent vor dem derzeitige Koalitionspartner CDU unter Landeschef und Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (28 Prozent), gefolgt von den Grünen mit Spitzenkandidatin Antje Piel (17 Prozent).
Letztere mussten in den ersten sechs heißen Wahlkampfwochen reichlich Federn lassen, je nach Umfrage bis zu acht Prozent. Doch derzeit würde es für den amtierenden Ministerpräsidenten und sein angestrebtes Ziel, Rot-Grün im Landtag von Hannover zu formen, reichen. Weil könnte dann seine dritte Amtszeit antreten.
Dies wäre dann gleichzeitig das vorläufige Ende des Zeitalters der Großen Koalitionen in deutschen Parlamenten.
Schwierig wird es für die FDP, die in den letzten Umfragen bei fünf Prozent liegt. Dabei weisen die Meinungsforscher immer darauf hin, dass ihre Umfragen Schwankungen von plus/minus zwei bis drei Prozent unterliegen. Doch sollte die FDP tatsächlich am zweiten Oktoberwochenende aus dem Landtag an der Leine fliegen, wird es auch in der Ampel-Regierung in Berlin ruppiger werden. Diesen Wahlgang hat sich FDP-Parteichef Christian Lindner bewusst ans eigene Bein gebunden. Der liberale Spitzenkandidat Stefan Birkner spielt bei den Wahlkampfauftritten nur eine eher untergeordnete Rolle, er ist selbst im Land weitgehend unbekannt. Wann immer es geht, tourt Christian Lindner an seiner Seite durchs Land. Sollte dieses Engagement des FDP-Bundeschefs nicht mit einem Ergebnis über fünf Prozent in Niedersachsen belohnt werden, muss Lindner auch in der Ampel umschalten. Lindners Hoffnung in den letzten Tagen vor dem Urnengang könnte sein, dass die Gasumlage tatsächlich kippt. Auch wenn er länger als die SPD und Teile der Grünen daran festgehalten hat, verbucht er es wohl als seinen Erfolg – und besteht auf dem Weiterbetrieb der Atommeiler.
Wie nun die angestrebte Gas- und Strompreisbremse finanziert werden soll, ist noch unklar. Aber er habe eine Idee dazu, sagte Lindner – nur wie die konkret aussieht, verschwieg der Bundesfinanzminister zunächst mit dem Hinweis auf Rücksprache in der Koalition. Ohne Gasumlage wird der „Energiepreisdeckel" für Strom und Gas mit geschätzten Kosten von weit über 50 Milliarden Euro nicht ohne neue Schulden zu finanzieren sein. Doch das Wort „Schulden" will der Finanzminister nun gar nicht hören. Schon aus Parteiräson besteht Lindner auf der Einhaltung der Schuldenbremse in Bund und Ländern im kommenden Jahr. Aber Energiepreisbremse und Schuldenbremse gehen beim besten Willen nicht zusammen. Wie dies aussehen soll, darüber sprechen SPD, Grüne und FDP lieber nicht im Wahlkampf. Der anstehende Wahltag in Niedersachsen heißt damit für die Bundespolitik, maßgebliche Entscheidungen beim dritten Entlastungspaket erst nach dem 9. Oktober zu treffen.
FDP-Einzug noch fraglich
Diese Gemengelage aus Wahlkampf und politischem Zögern könnte eine Steilvorlage für die Linke sein. Doch zum Entsetzen der Parteiführung in Berlin ist diese weiterhin mit Lagerbildung beschäftigt. Trotz eines Bundesparteitags zur „neuen Geschlossenheit" nach dem desaströsen Bundestagswahlergebnis ist die Linke zerstritten wie eh und je. Für die Vorkämpfer gegen soziale Ungerechtigkeit in Niedersachsen bedeutet dies laut Umfragen auch, wieder nicht im Landtag vertreten zu sein. Derzeit käme die Linke nicht über die Fünf-Prozent-Hürde. Ausgerechnet der über Parteigrenzen anerkannte Soziallobbyist und Chef des Paritätischen Gesamtverbandes Ulrich Schneider und der ehemalige Hamburger Bundestagsabgeordnete und Finanzexperte Fabio De Masi erklärten erst kürzlich, nach einer zornigen Bundestagsrede von Sahra Wagenknecht gegen den deutschen „Wirtschaftskrieg", ihren Parteiaustritt. Die Linke in Niedersachsen hatte beide noch für ihren Wahlkampf-Schlussspurt Anfang Oktober fest eingeplant.
Ausgerechnet die AfD kommt dagegen in den letzten Umfragen auf gut neun Prozent, drei Prozent mehr als noch 2017. Eine Partei, die im Bundesland selbst hoffnungslos zerstritten ist, sich in der vergangenen Legislatur unter dem ehemaligen prominenten ARD-Fernseh-Journalisten Armin-Paul Hampel wiederholt selbst zerlegt hat und sich seit Ende Mai neu zu sortieren versucht. Sie wird sicher auch wieder dem neuen Landtag angehören.