Viele Einheimische nennen ihn den Wiedervereinigungszug. Er führt von Nord- nach Südvietnam. Entlang seiner Route hat man einzigartige Aussichten auf vorbeiziehende Reisfelder, wilde Dschungel, geschäftige Stadtviertel und idyllische Fischerdörfer.
Patriotisch war sie, die Einfahrt in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon. Denn das Lied, das über die krächzenden Lautsprecher durch den Zugwaggon schallt, erzählt mit viel Pathos vom siegreichen Einmarsch der nordvietnamesischen Vietcong-Truppen in die Stadt im April 1975.
Vielleicht war der Zugschaffner und Gelegenheits-DJ der Meinung, eine kleine musikalische Aufmunterung sei angebracht. Schließlich haben einige seiner Zuggäste gerade eine 1.726 Kilometer lange Zugfahrt zwischen den beiden Metropolen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt hinter sich. Den Zug nennen die Vietnamesen den „Wiedervereinigungszug“. Obwohl der Krieg gegen die USA seit fast 50 Jahren beendet ist, berichten Vietnamesen, mit denen man darüber ins Gespräch kommt, dass es immer noch Ressentiments gegenüber den „Anderen“ gibt. Der Streckenverlauf wurde schon kurz nach dem Vietnamkrieg (1955 – 1975) sehr schnell wieder hergestellt, um die im Krieg verfeindeten Landesteile Nord- und Südvietnam zu vereinen. Wer Luxus im Zug erwartet, ist fehl am Platz: Die Strecke wird genutzt von Vietnamesen, die günstig ihre im jeweils anderen Landesteil wohnenden Freunde oder Verwandten besuchen wollen. Reisende mit dieser Absicht sind leicht an den fast allgegenwärtigen Styroporboxen zu erkennen. Die – so erfährt man auf Nachfrage – oft Essen enthalten oder großzügige Geschenke für Omas, Opas, Schwestern, Brüder, Onkel, Tanten und Neffen andernorts. Familie wird groß geschrieben in Vietnam, das merkt man auch an der Sprache; kaum eine andere hat so viele Pronomen, die sich je nach Alter, Geschlecht, Beziehungsgrad, aber auch sozialem Status ändern. Einheimische und die Handvoll Touristen, die sich in die Waggons mit durchweg blauem Interieur verirren, brauchen gutes Sitzfleisch. Entschädigt wird man durch die offene, freundliche Art der Vietnamesen. Vor allem die Jüngeren sprechen fast alle ein paar Brocken oder mehr Englisch und sind offen für Small Talk. Es wird geredet und gelacht. Und wenn es spät wird und die Sonne hinter den Reisfeldern eintaucht und alle von der Schönheit des Augenblicks gefangen sind, wird auch spontan gesungen. Wer Ruhe sucht, muss weitersuchen. Gute Verpflegung andererseits ist nie weit; gefühlt alle 30 Minuten schiebt ein blau uniformierter Schaffner einen Rollwagen durch den Gang und offeriert Klassiker der vietnamesischen Küche: allen voran das Sandwich Banh Mi. Das Baguette, bei dem hauptsächlich Reismehl und nicht Weizenmehl benutzt wird, ist für Zugverpflegung erstaunlich frisch und knusprig. Ein typisches Banh Mi in Hanoi ist belegt mit einer zarten Schicht Butter, Leberpastete, Fleischfasern, Schinken und ein paar Scheiben Schweinefleischmortadella – alles garniert mit frischem Koriander, Gurken und einer Soße aus gemahlener Chili. Und auch die berühmte, weltweit bekannte Pho-Suppe fehlt nicht: Eine dampfende Schale mit duftender Brühe liefert eine harmonische Kombination aus Pho (Reisnudeln), zartem Fleisch (Rind oder Huhn) und aromatischen Kräutern. Nach einer kurzen Nacht weckt ein starker Kaffee, zubereitet nach vietnamesischer Art mit gesüßter Kondensmilch, in Kombination mit dem gleißenden Sonnenaufgang die matten Lebensgeister.
Im Homestay kocht die Hausherrin
Auf der Zugstrecke liegen viele sehenswerte Orte. Geschichtsinteressierte steigen aus in der alten Kaiserstadt Hue: In Hue residierten von 1802 bis 1945 die vietnamesischen Kaiser und machten den Ort zur Hauptstadt Vietnams. Seit 1993 zählt Hue zum Weltkulturerbe der Unesco.
Ungefähr auf halber Strecke liegt die Großstadt Da Nang. Von dort lohnt sich ein Abstecher in das 30 Kilometer entfernte Hoi An City. Mit dem Linienbus kostet die Fahrt budgetfreundliche 72 Cent. Hoi An City ist ein guter Ort für Architektur-Fans. Die kleine Stadt bietet eine einzigartige Mischung aus chinesischen, japanischen und europäischen Baustilen. Empfehlenswert sind Besuche in „Old Town“ und speziell in einem der traditionellen alten Häuser im japanischen oder chinesischen Architekturstil. Sie wurden vor etwa 200 Jahren von reichen Kaufleuten errichtet und bieten eine Kombination aus Ladenfront im vorderen Teil und Wohnraum im hinteren Teil. Am besten erhalten ist wohl das Tan Ky House. In der Hauptsaison zwischen November und März ist die Stadt sehr voll. Um dem Trubel etwas zu entgehen, empfiehlt es sich, anstatt eines Hotels ein sogenanntes Homestay zu buchen: Schön daran ist die zarte familiäre Anbindung, die man dabei erlebt. Denn man wird meistens von der Hausherrin bekocht und bekommt einen kleinen Einblick in den Alltag der vietnamesischen Gastgeberfamilie.
Die Zugfahrt endet in der bevölkerungsreichsten Stadt des Landes. Ho-Chi-Minh-Stadt hat fast neun Millionen Einwohner. Der zentral gelegene Distrikt 1 erzählt viel von der kolonial-französischen Vergangenheit: Heraus sticht dabei die Kathedrale Notre-Dame und direkt gegenüber das Hauptpostamt mit der gelben Fassade und den grünen Fensterläden, das Ende der 1880er-Jahre vom französischen Architekten Alfred Foulhoux im Renaissance- und Gotikstil erbaut wurde.
Die Vietnam-Erkundung mit dem Wiedervereinigungszug von Nord nach Süd – oder umgekehrt – ist ein Weg, dieses faszinierende Land intensiv kennenzulernen. Schade, wenn auch fahrplanerisch verständlich, ist die Zugbindung des Tickets. So muss man schon vor dem Fahrkartenkauf entscheiden, welcher Ort eine Fahrtunterbrechung wert ist. Trotzdem: Wer auf eine entschleunigte und authentische Art reisen will, sitzt im Wiedervereinigungszug richtig.