Bo Henriksen rettete Mainz 05 im Vorjahr aus scheinbar aussichtsloser Situation. Dass zu Saisonbeginn Zweifel an ihm aufkamen, kann heute kaum jemand verstehen.

Dass das Fußball-Geschäft ein (allzu) hektisches ist, ist allgemein bekannt. Wie hektisch es sein kann, zeigt das Beispiel von Bo Henriksen. Im Frühjahr hatte der Däne beim FSV Mainz 05 nicht weniger als ein kleines Fußball-Wunder bewirkt. Nach dem 21. Spieltag hatte Henriksen, den auch schon Union Berlin und der 1. FC Köln auf dem Radar gehabt haben sollen, die Rheinhessen in fast aussichtsloser Lage übernommen. Einen einzigen Sieg hatten die Mainzer bis dahin nach fast zwei Dritteln der Saison errungen, der erste Tabellenplatz, der zur sicheren Rettung berechtigt hätte, lag bereits neun Punkte entfernt.
Und dann kam eben Bo Henriksen. Mit flotten Sprüchen, maximaler Leidenschaft am Spielfeldrand und euphorischen Jubel-Läufen mit wehenden Haaren hatte er die Mainzer aus ihrer Lethargie gerissen. Von 13 Spielen gewann er sechs, holte in diesem Zeitraum mit 23 Punkten einen mehr als der FC Bayern und rettete die zuvor scheinbar leblosen Mainzer ohne in die Relegation zu müssen. Sportvorstand Christian Heidel sprach von einer „Begeisterung wie früher bei Jürgen Klopp“. Und niemand widersprach ihm.
Insofern überraschte es sehr, was Anfang Oktober in Mainz geschah. Zumal die Karnevalsstadt im Fußball keinesfalls als hysterisches und ungeduldiges Pflaster gilt. Die 05er hatten nach fünf Spielen fünf Punkte auf dem Konto. Keine gute, aber auch keine beängstigende Ausbeute. Zumal Mainz damit solider Tabellenzwölfter war. Und ein paar Anlauf-Schwierigkeiten angesichts der Abgänge von Sepp van den Berg (Brentford FC), Leandro Barreiro (Benfica Lissabon) und Brajan Gruda (Brighton & Hove Albion) und somit einer gesamten Achse eigentlich zu erwarten waren.
Ein Mann für „Sondereinsätze“
Doch dann rüttelte ein Kommentar in der heimischen „Allgemeinen Zeitung“ am 1. Oktober viele Beobachter durch. „Atmosphärisch, physisch, taktisch, spielerisch, es stimmt die gesamte Richtung nicht“, hieß es dort. Und der Autor kam zu dem Schluss, dass Henriksens Zeit quasi schon abgelaufen sei. „Bo Henriksen ist für Sondereinsätze ein großartiger und begeisternder Macher – aber für den Mainz-Alltag ist er aktuell nicht der zielsichere Entwickler.“
Zwei Tage später stieß der „Kicker“ ins selbe Horn. „Nur ein Motivator?“, hieß die Überschrift eines Artikels mit der Unterzeile: „Warum der Mainzer Retter vieles von seiner Aura eingebüßt hat.“ „Der Kredit, den Bo Henriksen bei einem durchaus relevanten Teil des Mainzer Umfelds aktuell noch genießt, ist bemerkenswert gering“, schrieb das Fachblatt: „Der frühe Zeitpunkt einer solchen Debatte ist allemal ungewöhnlich. (…) Und doch handelt es sich bei der Frage nach Henriksen nicht um ein künstlich konstruiertes Thema.“ Denn, so der „Kicker“: „Die Diskussion, ob der charismatische Däne nicht allein ein starker Motivator, sondern auch ein guter Taktiker und Teamentwickler ist, verfolgte ihn bereits auf früheren Stationen. (…) Schon in der frühen Phase seiner Trainerkarriere entstand in Dänemark der Ruf eines grandiosen Motivators aber limitierten Taktikers und Entwicklers.“
Sollte der Zauber von Henriksen also so schnell verflogen sein? Mitnichten. Denn der dänische Wirbelwind und die Mainzer legten die dritte überraschende Wende ihrer erst einjährigen Zusammenarbeit hin. Nach dem neunten Spieltag war Mainz noch 13., dann drehte der Karnevalsclub richtig auf. Nach sechs Siegen aus acht Spielen beendeten die Mainzer die Hinrunde als Sechster, nur zwei Punkte hinter einem Champions-League-Platz. Insgesamt 28 Zähler sorgten für die zweitbeste Hinserie der mit kurzer Unterbrechung nun schon 19 Jahre dauernden Erstklassigkeit der Rheinhessen.
Nur Thomas Tuchel hatte vor 14 Jahren fünf Punkte mehr geholt. Mit 30 erzielten Treffern stellte das aktuelle Team aber den Tor-Rekord der damaligen Truppe um die „Bruchweg-Boys“ André Schürrle, Lewis Holtby und Adam Szalai ein. Unter anderem, weil Mainz in den ersten sechs Auswärtsspielen fünfmal dreifach traf. Henriksen hatte eine Art zweites Wunder geschafft. Er war alles andere als ein Auslauf-Modell.
Seine Begründung war denkbar einfach. „Da gibt es kein Geheimnis“, sagte er: „Ich habe eine sehr gute Mannschaft, mein Team und der ganze Verein sind unglaublich. Alles passt zusammen.“ Die Entzauberungs-Artikel waren da gerade mal zwei Monate und elf Liga-Spiele her.
Dass Henriksen weiter sehr über die Motivation kommt, ist zweifelsohne richtig. Nur ihn darauf zu reduzieren, ist eben falsch. Auch, wenn er ab und zu mal über das Ziel hinausschießt. Der SWR schrieb ironisch: „Spätestens, als der Trainer damit begann, vor Heimspielen und noch vor dem Aufwärmen vor den Fanblock zu laufen und die Anhänger heiß zu machen, hat man sich mitunter auch schon mal gefragt, ob dieser Typ nicht ein wenig meschugge ist.“ Aktuell führt Henriksen nicht nur die Gelb-Statistik unter den Trainern mit drei Karten an, beim 0:1 bei Meister Leverkusen sah er auch noch Gelb-Rot. Doch seine Philosophie lebt von Überzeugung und Emotion, von vollem Körper-Einsatz. Quasi Bauch, Beine, Bo.
„Wir werden attackieren, wir haben keine Angst“, predigte er immer wieder: „Es ist wichtig, dass du nicht zu viel denkst. Wenn du das machst, bekommst du Probleme. Das ist in der Liebe so, im Fußball, im Journalismus, überall im Leben. Alles, wovor wir im Leben Angst haben, wird passieren.“ Und das Ganze garnierte er sogar noch mit einem griffigen Beispiel. „Wenn du Angst hast und zu sehr an die Konsequenzen denkst, ist das nicht gut. Wenn du eine Frau ansprichst und Angst vor einer Abfuhr hast“, dann sei das kontraproduktiv.
Seine Mainzer Spieler steckte Henriksen mit seinem Mut und Optimismus jedenfalls an. „Bo ist jemand, der der Mannschaft den Glauben an sich selbst zurückgibt. Die Jungs sind in der Überzeugung auf das Feld gegangen, dass sie gegen Bayern München gewinnen können – und haben es dann auch getan“, stellte Manager Heidel in der „Welt“ fest. Und ergänzte: „Wenn die reine Motivation das einzige Mittel eines Trainers wäre, wäre der Effekt schon nach vier Wochen verpufft.“ Vor allem scheint Henriksen, dessen Heimatstadt Roskilde durch ein großes Rock-Festival europaweite Berühmtheit genießt, die Balance zu schaffen, denn über die Motivation kommende Trainer leben oft von ihrer Unberechenbarkeit. Und scheitern irgendwann wegen ihr. Henriksen, so versicherte Ex-Nationalspieler Nadiem Amiri aber, „ist jeden Tag der Gleiche. Wenn ihm etwas nicht passt, dann sagt er es direkt ins Gesicht, und das mag ich an ihm“.
Mehr als ein Motivator
Henriksens Vater war übrigens ein in Dänemark bekannter Sportmoderator. Der Junior probierte sich auch in diesem Bereich, doch ihm fehlte der Kick. „Ich habe vor ein paar Jahren mal als Experte fürs Fernsehen gearbeitet, aber das war mir viel zu langweilig“, sagte er im „11Freunde“-Interview: „Ich war kein Teil einer Mannschaft, und mir hat das Gefühl von Sieg oder Niederlage gefehlt. Ich habe zwar nie Drogen genommen, aber als Fußballtrainer fühlt es sich berauschend an, wenn während der 90 Minuten alles auf dem Spiel steht.“

Als Spieler kickte er außer bei vielen Clubs in der Heimat auch in England, Island und auf den Malediven. Und das war eine durchaus bewusste Entscheidung. „Ich wusste schon früh, dass ich ein besserer Trainer als Spieler sein würde“, sagte er: „Deshalb wollte ich als Spieler unterschiedliche Fußballkulturen kennenlernen und dabei zugleich mehr über mich erfahren.“
So impulsiv er dann auch stets scheint, so hört er doch immer wieder in sich hinein. Und zog sofort mit der gesamten Familie nach Mainz. „In Zürich war ich die ersten fünf Wochen alleine, das war schlimm“, sagte er: „Ich gebe viel Energie, und deshalb muss ich mich irgendwo aufladen. Das tue ich etwa, wenn ich mit meiner Frau ein Abendessen koche oder mit meinen Kindern spiele. Meine Familie ist mein Lebenselixier.“
Auch im Sport gehe es um die menschlichen Beziehungen sagte Henriksen. Eine Ansicht, die er mit seinem berühmten Vorgänger Klopp teilt, mit dem er vor der Zeit in Mainz schon in Dänemark immer wieder verglichen wird. Doch sein allerliebstes Thema ist die Angst. „Mein wichtigster Job als Trainer ist es, den Spielern die Angst zu nehmen, während alle versuchen, Angst zu verbreiten“, erklärte er: „Wie gesagt: Menschen lernen mehr und besser, wenn sie sich wohlfühlen. Das umzusetzen ist doch kein Hexenwerk, verdammt noch mal!“ Und dieser Trainer ist sicher doch mehr als ein Motivator.