Die neue Regierung muss schnell gebildet werden, und sie muss schnell handeln. Das hat nicht nur mit der weltpolitischen Lage zu tun.
In diesen Zeiten diktiert sich die Agenda selbst. Eine zerfallende Sicherheitsarchitektur inmitten wirtschaftlicher Schwäche und eines schneller werdenden Klimawandels bietet für Deutschlands künftige Regierung mehr als genug Arbeitsaufträge. Auch wenn es dieser Tage schwerfällt und Altkanzler Helmut Schmidt in solchen Fällen Arztbesuche empfahl: Welche Vision von Deutschland wollen wir in den kommenden Jahren verfolgen? Gerade jetzt ist es an der Zeit, groß zu denken. Denn nichts anderes tun die Herrscher in der Verbotenen Stadt, im Kreml und neuerdings im Weißen Haus.
Für Moskau hat sich an seinen Zielen nichts geändert: Die Nato muss zurückgedrängt, Europa gespalten werden. Offenbar hat der Kreml im neuen US-Präsidenten darin sogar einen willfährigen Partner gefunden. Für Deutschland hat sich in diesen unruhigen Zeiten ebenfalls nichts an seinen Zielen geändert: Eine exportorientierte Nation gedeiht nur, wenn internationale Regeln eingehalten werden. Im europäischen Verbund muss die oberste Direktive jeder künftigen Bundesregierung sein, die regelbasierte Weltordnung für sichere Handelswege aufrechtzuerhalten. Diese steht auf der Kippe. Daher wird Deutschland eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa mitaufbauen müssen – mit allen EU-Partnerländern, einer gestärkten Ostflanke, den baltischen und nordischen Staaten, dem erweiterten Weimarer Dreieck und im Idealfall zusammen mit Kanada und Großbritannien, um gemeinsam die strategische Unabhängigkeit und die atomare Abschreckung zu vergrößern. Zeit bleibt dafür kaum. In wenigen Jahren ist Russland nach Angaben von Militäranalysten wie Christian Mölling bereit für den nächsten Krieg – dann womöglich, ohne eine US-Intervention befürchten zu müssen.
Sicherheit, Rüstung und Rente
Vereinheitlichte Waffensysteme, ein Raketenschirm, all dies kostet nach EU-Schätzungen 500 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren und könnte nach Ausnahmenregelungen für die Maastricht-Kriterien, wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagen hat, durch mehr Schulden finanziert werden. Deutschlands Rüstungsbeitrag kann hierbei entscheidend sein, die industrielle Basis und das Können entsprechender Fachkräfte sind vorhanden.
Dies muss alleine schon als wirtschaftliche Chance begriffen werden. Als Schlusslicht unter den OECD-Ländern in Sachen Wirtschaftswachstum wird dieser wunde Punkt in der kommenden Legislatur zentral bleiben, auch wenn die Aussichten laut OECD für 2026 wieder etwas rosiger sind (1,2 Prozent Wachstum). Ausgehend von einem sich beschleunigenden Klimawandel kann die Strategie aber nur lauten, diesen in den Mittelpunkt jeglicher Wirtschaftspolitik zu stellen – ob in der Energieversorgung, Biodiversität und Landwirtschaft, der Forschungsförderung oder Mobilität. Die Transformation der Wirtschaft in der Klimakrise ist teuer, aber unabwendbar. Weil die Kosten für die Bürgerinnen und Bürger ebenfalls steigen, gilt dies gleichermaßen für ein staatliches Klimageld. Denn ohne finanzielle Pflaster sind die daraus folgenden gesellschaftlichen Verwerfungen schon jetzt spürbar.
Vieles davon müssen und werden deutsche Unternehmen alleine schaffen. In Deutschland zu produzieren aber ist mittlerweile teuer, die Arbeitskosten im internationalen Vergleich hoch. Daher kann eine Senkung der Unternehmensund Stromsteuer auf vergleichbares europäisches Niveau die Attraktivität des Standortes wieder erhöhen. Derzeit zehrt Deutschland noch von einem Image, das gerade aus verschiedenen Gründen verlorengeht. Dies liegt jedoch nicht alleine an steuerlichen Faktoren oder hohen Sozialabgaben. Die erlahmte Produktivität und Innovationsfreudigkeit kann nur wieder angekurbelt werden, wenn die Entbürokratisierung signifikant, die Digitalisierung tiefgreifend sind. Gleichzeitig dürfen die Sozialabgaben nicht steigen, Szenarien sprechen derzeit von einem Anstieg auf 48,6 Prozent bis 2035, wenn nicht gegengesteuert wird. Mangelnde Produktivität hängt jedoch an vielen weiteren Faktoren, darunter auch am Fachkräftemangel. Um diesen aufzufangen, bräuchte das Land, das mitten im demografischen Wandel steckt, 300.000 bis 400.000 Zuwanderer jährlich, sagte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Für die Sozialsysteme wären diese ein Gewinn, sofern sie entsprechend qualifiziert sind und nicht schnell Gefahr laufen, Jobs unterhalb ihrer Qualifikation annehmen zu müssen oder rascher arbeitslos zu werden. Daher wären geringere Integrationshürden auf dem Arbeitsmarkt für Migranten und eine zielgerichtete Migrationspolitik ein weiterer Hebel, um die Produktivität des Landes zu steigern.
Wie die Rente bezahlbar auf angemessenem Niveau bleiben kann, diese Frage wird eine künftige Bundesregierung ebenfalls beantworten müssen. Es wird möglicherweise um niedrigere Rentensteigerungen in Höhe der Inflation gehen und um Anreize für einen späteren Renteneintritt. Einen früheren leisten sich derzeit im Schnitt vor allem jene, die ihn nicht benötigen – gut verdienend und gesund, sagt die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer, weshalb die Rente nach 45 Jahren ungerecht sei. Abschlagsfreie Renten bräuchte es daher eher für Geringverdiener, für jene, die körperlich stark belastet sind und daher früher in Rente müssen. Um die Rente einigermaßen stabil zu halten, wird eine Zusatzfinanzierung, etwa über den Aktienmarkt, notwendig werden – steuerfinanziert aus dem Staatssäckel aber macht dies vor allem dann Sinn, wenn der Staat wieder einen positiven Saldo ausweist. Dies war zuletzt 2019 der Fall. Gleiches gilt für die Pflegeversicherung, die ebenfalls mit einem Aktienmarktanteil abgesichert werden könnte. Dafür plädieren jedenfalls Wirtschaftsforschungsinstitute.
Finanzielle, ökologische, soziale Gerechtigkeit
Wer arbeitet, will auch angemessen wohnen. Steigende Mieten und Baupreise verhindern dies zurzeit, es fehlen 550.000 Wohnungen, so das Pestel-Institut. Ankurbeln könne man dies durch gelockerte Baustandards und gebündelte Förderungen, sagen Bauforscher. Ob die Mietpreisbremse hier einen positiven Beitrag leisten kann, ist derzeit umstritten. Die Kommunen alleine werden dies nicht leisten, knapp 40 Prozent von ihnen sind ohnehin nicht mehr in der Lage, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Eine Altschuldenregelung mithilfe des Bundes sollte zu einer sicheren Daseinsvorsorge vor der eigenen Haustür beitragen.
Und dann schiebt Deutschland noch einen Sanierungsstau in Höhe von 166 Milliarden Euro vor sich her – Schulen, Straßen, Brücken, eine marode Bahn, deren Generalsanierung alleine 27 Milliarden Euro kostet. Also, wer soll das nun bezahlen?
Rein durch Steuersenkungen wird dies nicht möglich sein. Daher sind Belastungen für Vermögende denkbar. Das Argument, eine Vermögenssteuer sei zu kompliziert, stimmt laut Steuerexperten vom Deutschen Institut für Wirtschaft nicht. Der Aufwand entspräche drei bis acht Prozent der Einnahmen. Der Freibetrag darf aber nicht zu niedrig angesetzt sein, um den Mittelstand nicht zu stark zu belasten. Bei Freibeträgen von einer Million für Alleinstehende und zwei Millionen für Ehepaare ergeben sich bei Steuersätzen von 0,4 bis 1,2 Prozent laut Ifo-Institut schon kurzfristige Steuereinnahmen von zirka 27 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Deutschlands Gesamtsteuereinnahmen lagen 2024 bei 861 Milliarden Euro. Das Problem: Viel Vermögen steckt in deutschen Betrieben, eine Besteuerung könnte betriebliche Investitionen senken, wovor die deutsche Wirtschaft warnt. Stattdessen sollte die Erbschaftssteuer in Deutschland neu geregelt werden, fordert etwa die OECD. Das Argument: Geburtenstarke Jahrgänge der sogenannten Babyboomer, die Jahrgänge zwischen 1955 und 1969, werden in ihrer Rente in den nächsten Jahren noch ein Erbe antreten und ihr Vermögen weiter mehren. Demzufolge erben die geburtenschwächeren Folgejahrgänge pro Kopf noch viel mehr. Schon jetzt seien die von den reichsten Haushalten (die oberen 20 Prozent) gemeldeten Erbschaften und Schenkungen im Durchschnitt fast 50 Mal höher als die der ärmsten Haushalte (die unteren 20 Prozent). Weil vermögende Erben jedoch viel mehr Steuergestaltungsmöglichkeiten haben als ärmere Haushalte, entgehen sie oftmals dem Fiskus. Hier könne angesetzt werden, so die OECD-Studie, um die Vermögensverteilung gerechter zu gestalten.
Gerechtigkeit wird ohnehin die zentrale Baustelle Deutschlands in naher Zukunft sein: finanziell, sozial, ökologisch. Nur auf diese Weise sind weitere extreme Ausschläge auf dem Politbarometer vermeidbar. Klar ist jedoch eines: Die ruhigen Zeiten für Deutschland und die EU sind vorüber.