Die Beitragsfreiheit für Kitas kommt – aber das löst nicht das wichtigste Problem: fehlende Pädagogen. Ausbildungsstellen gibt es zwar immer mehr, der Bedarf aber wird in den kommenden Jahren deutlich steigen, sagt die Pädagogin Prof. Dr. Charis Förster.
Frau Prof. Förster, die Kitas im Saarland sollen bis 2027 komplett beitragsfrei sein. Eine gute Entscheidung des Landtages?
Grundsätzlich ist dies zu begrüßen. Die wissenschaftlichen Befunde zeigen, dass ein frühzeitiger Besuch einer Kita, die betreut, bildet und erzieht, für die frühkindliche Entwicklung von Vorteil ist. Eine klassische Studie von Wolfgang Tietze hat Familien dabei begleitet und die Einrichtungen besucht und dabei eindeutige Bezüge zur Qualität einer Einrichtung hergestellt. Es gibt aber auch Studien, zum Beispiel im sozioökonomischen Panel, bei denen nicht der Qualitätsaspekt im Vordergrund steht. Allein der Besuch einer Kita unterstützt und fördert demnach die kindliche Entwicklung, insbesondere die soziale und die sprachliche Kompetenz. Zweifelhaft aber bleibt, ob alle Familien in gleicher Weise davon profitieren. Es wird weiter Familien geben, die über finanzielle Entlastung hinaus Hilfe benötigen, und es wird auch Familien geben, für die dies nicht nötig ist, weil sie materiell gut aufgestellt sind. Einige Bundesländer haben in der Vergangenheit einkommensbezogen den Beitrag für einen Kitaplatz kalkuliert. Als meine Kinder die Kita besucht haben, habe ich das persönlich als gerecht empfunden. Das Saarland hat sich – wie andere Bundesländer auch – berechtigterweise für die Beitragsfreiheit entschieden. Bildung sollte allen offen stehen, Bildung in Schulen ist auch kostenfrei.
Das Bildungsministerium hat kürzlich veröffentlicht, dass im Sommer rund 600 Absolventinnen und Absolventen im Saarland ausgebildet sein werden, darüber hinaus über 160 Kinderpflegekräfte. Wie viele aber brauchen wir wirklich?
Die Zahlen sind für das Saarland eigentlich gut, auch wenn der Bedarf weitaus höher ist. Wenn wir uns die Entwicklung von den ersten „Pisa“-Studien bis heute anschauen, haben sich die Ausbildungs- und Studienkapazitäten deutlich erhöht. Der Anteil akademischer pädagogischer Fachkräfte ist jedoch im bundesweiten Vergleich im Saarland noch recht überschaubar. Es gibt kaum einen Bereich im Arbeitsmarkt, der vergleichbar immens gewachsen ist. Man kann also nicht sagen, es sei nichts passiert. Gleichzeitig aber ist der Bedarf damit nicht abgedeckt. Das hängt zum einen mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammen, die besagen, wie wichtig der frühkindliche Krippen- und Kitabesuch für Kinder ist, zum anderen mit dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Der Ausbau im Westen Deutschlands und in den Großstädten war und ist in den beiden letzten Jahrzehnten sehr hoch gewesen. Deshalb reichen die Fachkräfte immer noch nicht aus.
Warum nicht?
Gerade für den Krippenbereich und durch den Rechtsansprach auf Ganztagsbildung in der Schule wird der Bedarf weiter steigen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ergebnisse der Iglu-Studien wird außerdem deutlich, dass gerade die sprachliche Kompetenz einen wesentlichen Einfluss auf die weitere Bildungsbiografie der Kinder hat und der Besuch der Kita daher wichtig ist.
Alternative Wege der Ausbildung im Angebot
Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Angebote wecken Interesse und Bedarfe. Frühkindliche Erziehung, Bildung und Betreuung gehört inzwischen zur selbstverständlichen Lebensrealität der Familien. Und es wird als gravierend empfunden, wenn dies nicht mehr oder nicht zuverlässig zur Verfügung steht. Zu dem aktuellen Fachkräftebedarf ist in einer absehbaren Zeit ein noch größerer Fachkräftemangel zu erwarten. Im politischen und fachlichen Diskurs werden alternative Ausbildungs- und Studienangebote diskutiert, zum Beispiel ausbildungsintegrierte und duale Möglichkeiten, die von jungen Menschen besonders nachgefragt werden. Das Ministerium für Bildung und Kultur ist mit den Fachschulen und auch mit uns als Hochschule im Gespräch, damit ausbildungsintegrierte Angebote erweitert werden. Diese Absolventinnen und Absolventen können viel schneller in der Praxis eingesetzt werden. An unserer HTW Saar bieten wir ein kooperatives Studium an, ein spezifisches Studienformat. Die Studierenden sind hier eingeschrieben und haben gleichzeitig einen Arbeitsvertrag etwa mit einem Unternehmen oder Träger, bei dem sie dann stundenweise angestellt sind. Hier werden die Sozialwissenschaften voraussichtlich zum kommenden Wintersemester ein Angebot zur Verfügung stellen können. Es ist ein Win-win-Angebot für die Praxis, die Studierenden und unsere Hochschule.
Wie sieht der Zuspruch dafür aus?
Duale Studiengänge, kooperative Studienformate, sprich Studieren und Arbeiten in der Praxis des zukünftigen Berufs, haben hohen Zuspruch und expandieren deutschlandweit. Der Bedarf und die Nachfrage sind vorhanden. Es kann sein, dass es eine Präferenz der Studierenden gibt, nicht nur theoretisch ausgebildet zu werden, sondern sich auch gleichzeitig in der Praxis zu bewähren. Als anwendungsbezogene Hochschule ist das ein zentrales Anliegen. Auch die Entlohnung ist sicher ein wichtiger Aspekt. Das kooperative Studienformat ist nicht im engeren Sinne ein duales Angebot. Kooperativ heißt, Studium und Arbeit läuft parallel, die Arbeitsphase ist aber in der Regel kein originärer Bestandteil des Studiums. Wir stellen aber die organisatorischen Strukturen zur Verfügung, um beides zu verbinden.
Im Saarland fehlen weiterhin Kitaplätze, die Bertelsmann Stiftung sprach Ende 2022 von 4.700. Wie belastbar sind diese Zahlen?
Die Zahl der Bertelsmann Stiftung ist lediglich ein Rechenexempel. Sie legt den Fachkraft-Kind-Schlüssel rechnerisch an und erhält dann diese Zahl. Es gibt andere Beispiele mit anderen Befunden. Allen gemeinsam ist, dass sie den grundsätzlichen Fachkräftebedarf in den Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit setzen. 4.700 sind es wahrscheinlich nicht, aber wir haben die Situation, dass viele Fachkräfte der Babyboomer-Generation bald in Rente gehen und 2026 ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbildung besteht.
Babyboomer in Rente verschärfen das Problem
Im Saarland werden neue Kitas gebaut, neue Konzepte entwickelt. Der Bedarf ist aber nicht in jedem Landkreis gleich stark, und im Grunde wissen wir nicht genau, wie hoch der Bedarf wirklich ist. Eltern melden ihre Kinder nicht nur in einer, sondern in vielen Kitas an. Ein erster Ansatz, um den Bedarf abzuschätzen, ist der Kita-Planer des Regionalverbandes Saarbrücken. So etwas könnte landesweit funktionieren, ist wohl auch geplant. Wir wissen, dass es zum Beispiel in Brennpunktbezirken in der Landeshauptstadt derzeit viele fehlende Plätze gibt. Geschätzt wird allein in Burbach eine Anzahl von etwa 200 fehlenden Kitaplätzen. Kitas berichten, dass dort Familien buchstäblich täglich vor der Türe stehen und um einen Kitaplatz betteln. Gerade dort müssen wir achtgeben, dass die soziale Schere nicht noch weiter aufgeht. Hier wären niedrigschwellige Angebote, eine stundenweise Betreuung beispielsweise, schon ein erster guter Ansatz, der aber nicht ausreicht. Entsprechende Brückenangebote sind eine Notlösung. Die aktuellen Ergebnisse der Iglu-Studie, in der die Lesekompetenz der Viertklässler erhoben wurde, bestätigen für Deutschland leider, dass diese Kompetenz nicht nur im durchschnittlichen Niveau gesunken ist, sondern gerade bildungsbenachteiligte Familien besonders davon betroffen sind.
Was bedeutet es wissenschaftlich, wenn eine Kita eine hohe Qualität aufweist?
Qualität ist ein komplexer Begriff. Man kann ihn unterteilen in strukturelle Merkmale, Prozessmerkmale und Orientierungsqualität. Strukturell geht es unter anderem um den Fachkraft-Kind-Schlüssel, also wie viele Kinder einer Fachkraft zugeordnet sind. Diese Merkmale sind wissenschaftlich belegt: Wenn Fachkräfte weniger Kinder betreuen, können sie auf die individuellen Bedarfe der Kinder besser eingehen. Es geht aber auch um das Niveau der Ausbildung. Hier sind die Erkenntnisse nicht ganz so eindeutig. Man kann also nicht per se sagen, ein höheres Ausbildungsniveau führt automatisch zu einer qualitativ besseren Betreuung. Wahrscheinlich ist dies auch darauf zurückzuführen, dass neben der fachlichen Expertise die jeweilige Persönlichkeit der pädagogischen Fachkraft die Prozesse maßgeblich prägt.
Wissenschaftliche Erkenntnisse sind eindeutiger bei der Orientierungsqualität. Hier geht es darum, wie Fort- und Weiterbildung vom Träger unterstützt wird und wie oft eine Fachkraft oder ein Kita-Team daran teilnehmen kann. Wenn also ein Kita-Träger Zeit und Geld investiert, die Mitarbeitenden freistellt, dann wirkt sich das unmittelbar auf die Qualität aus. Sie sind gestärkt mit neuen Erkenntnissen der Pädagogik und können diese gleich in der Praxis anwenden. Sie bringen außerdem ihre praktischen Erfahrungen ein und vernetzen sich mit anderen. Ausbildungsintegrierte Angebote sind hier zu erwähnen, sie sind eine Möglichkeit zwischen Struktur- und Orientierungsqualität zu vermitteln. Im Übrigen ist diese Idee nicht neu – bereits Friedrich Froebel, der Gründer des ersten deutschen Kindergartens Mitte des 19. Jahrhunderts hat theoriegeleitet und anwendungsbezogen didaktisch-methodische Kompetenzen für die Interaktion mit Kindern besonders gut vermittelt und eingeübt. Prozessqualität wird mit umfangreichen Beobachtungsskalen erhoben. Hier geht es zum Beispiel darum, Interaktionen der Fachkraft mit dem Kind einzuschätzen oder der Kinder untereinander. Wie geht die Fachkraft in verschiedenen Situation auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes und der Gruppe ein? Wie interagieren die Kinder miteinander?
Es gibt Eltern, die würden weiter bezahlen, wenn sie hohe Qualität in der Kitabetreuung und -bildung erhalten. Wie hoch ist die Chance, dass sich zwei unterschiedliche Systeme bilden?
Diese Unterschiede gibt es ja bereits, wenn auch nur punktuell. Ich habe lange in Berlin gelebt, dort gab es schon vor mehr als zwei Jahrzehnten private Kitas zu einem oft sehr hohen Preis. Die Kitas legen Wert auf Fremdsprachen, auf MINT-Angebote, flexible Öffnungszeiten und so weiter. Seinen Kindern das bestmögliche Angebot zur Verfügung zu stellen, birgt gleichzeitig die Gefahr unsere Erwachsenenperspektive in den Vordergrund zu stellen – nämlich, dass Anzahl und Vielfalt an Angeboten für die Kinder zur Verfügung gestellt werden. Kinder profitieren aber stärker von alltagsintegrierten Bildungsangeboten, wie die Sprachkitas eindrücklich dokumentieren – Zeit zum Dialog, zum gemeinsamen Austausch, aber auch zur Entspannung. Wenn es gelingt, Kindern und Familien eine Begeisterung für Sprache, für Lesen mitzugeben, ist das wertvoller als punktuelle Projektangebote. In anderen Bundesländern gibt es Bildungs- und Betreuungsangebote von gut ausgebildeten Erzieherinnen und Kindheitspädagoginnen, die als Selbstständige tätig sind.
Wie hoch schätzen Sie die Chance ein, dass Fachkräfte aus dem Saarland abwandern, statt den Nachwuchs hierzulande zu betreuen?
Es fehlen junge Leute in der Ausbildung, im Studium, in der Forschung und auch auf dem Arbeitsmarkt. Viele junge Menschen scheinen sich in der Großregion oder in anderen Bundesländern umzuschauen. Dazu gibt es auch wissenschaftliche Untersuchungen. Es gibt aber auch sehr viele, die im Saarland verwurzelt sind und gerne hier leben und arbeiten. Ein Problem für den Kita-Bereich sind befristete Arbeitsverträge, zum Beispiel bei Vertretungsstellen. Das ist nicht so wahnsinnig attraktiv, besonders im Hinblick auf Alternativen und den bestehenden Fachkräftebedarf. Junge Menschen wissen sehr genau, was sie wollen, welche Ziele sie verfolgen. Häufig sind sie an Teilzeitstellen interessiert, weil sie genügend Zeit für ihre Freunde, Hobbys oder zum Erholen einfordern. Diese Einstellung ist nicht immer kompatibel mit den Bedarfen einer Kita, sie ist aber eine Lebensrealität vieler junger Menschen.
„Ab 8 Uhr zu spät, bis 17 Uhr zu früh“
Aber da der Arbeitsmarkt sich zu einem arbeitnehmergetriebenen Markt entwickelt, wäre es nicht an der Zeit, dass sich Träger darauf einstellen?
Ja, das stimmt. Kern-Öffnungszeiten einer Kita von 8 bis 17 Uhr sind sicherlich machbar, aber entsprechen nicht immer den Bedarfen der Familien. Die Frage ist daher, welche Angebote in den Randzeiten zur Verfügung gestellt werden können. Für einige Eltern ist ein Krippenplatz ab acht Uhr zu spät, eine Abholung ab 17 Uhr zu früh.
Es gibt einen Vorschlag des Berufsverbandes der pädagogischen Fachkräfte im Saarland, Betreuungs- und Bildungszeit zu splitten. Was halten Sie davon?
Ich finde gut, dass es einen Vorschlag gibt, der zur Diskussion anregt. Ministerin Streichert-Clivot hat auf einer Podiumsdiskussion darauf hingewiesen, dass die rechtlichen Grundlagen dafür vorhanden sind. Als Kindheitspädagogin und Forscherin finde ich dennoch die strikte Trennung zwischen Bildung und Betreuung schwierig. Das entspricht nicht dem Auftrag der Kitas. Dort geht es zu jeder Zeit um Erziehung, Bildung und Betreuung. Einzelne Bereiche dieser Trias wurden in der Vergangenheit immer wieder herausgestellt, jedoch ohne eine solche strikte Trennung. Zu diskutieren wäre: Wie ist dies in der Praxis umsetzbar? Wer begrüßt das Kind morgens, wer bietet Bildungsangebote an? Wer isst mit ihm oder wickelt das Kind? Es kann alles eine Bildungssituation für das Kind sein. Fachlich zu diskutieren ist außerdem, wer bei einer solchen strikten Trennung jeweils Verantwortung übernehmen darf und wer die Betreuungszeiten übernehmen soll. Hier gibt es Vorschläge, die aber rechtlich zu prüfen sind.