Die Betreuung eines behinderten Jungen brachte Nicole Sarripapazidis auf eine ganz besondere Idee. Die 42-Jährige näht Puppen, die Kindern mit Beeinträchtigung helfen, ihre Behinderung zu akzeptieren.
Ihre Puppen tragen Brillen, Hörgeräte, haben eine Magensonde oder sitzen im Rollstuhl – so verschieden die Puppen sind, die Nicole Sarripapazidis näht, eines haben alle gemeinsam: Sie haben ein Handicap. Viele Familien haben bei ihr eine Puppe mit genau dem gleichen Handicap in Auftrag gegeben, das auch ihr Kind hat. Nicoletta, wie sie sich nennt, nimmt sich viel Zeit für die Gespräche mit den Eltern, lässt sich möglichst viel von dem Kind erzählen und auch Fotos schicken. Sie stickt die Narben auf die handgenähten Puppen an der gleichen Stelle auf, an der sie auch das Kind hat. Auch Haar- und Augenfarbe der Puppe gleichen denen der Kinder. „So sieht das Kind, dass es mit seiner Behinderung nicht alleine ist, dass da ein Freund ist, der genau gleich aussieht", schildert Nicole Sarripapazidis ihre Beobachtungen. Diese Erfahrungen erleichtern nach ihren Worten dem Kind den Umgang mit seiner Behinderung. Spielerisch lasse sich so beispielsweise im Kindergarten die Beeinträchtigung erklären. Die Handicap Dolls seien viel mehr als Spielzeuge, sie seien Wegbegleiter und Seelentröster, gibt Nicoletta Rückmeldungen betroffener Eltern weiter. Ihre Handicap Dolls helfen Kindern mittlerweile nicht nur in vielen Familien, sondern auch in Krankenhäusern und Hospizeinrichtungen.
„Ein Freund, der genau gleich aussieht"
Als Tagesmutter betreute die 42-Jährige von September 2016 bis Mai 2019 einen Jungen mit Behinderung, der über eine Magensonde ernährt wurde. „Bei Spaziergängen mit dem kleinen Kämpfer, wie ich ihn gerne nenne, habe ich schnell die mitleidigen Blicke bemerkt, mit denen die Passanten unsere Hilfsmittel betrachtet haben", erinnert sich die medizinische Fachangestellte, die nach 20 Jahren in ihrem Beruf den Wunsch nach Veränderung spürte und sich deshalb als Tagesmutter bei einem Kind mit Beeinträchtigung engagierte. Da sei bei ihr die Idee entstanden, das Mitleid in Freude zu verwandeln. Und obwohl sie Linkshänderin sei und Nähen noch nie kapiert habe, habe sie der Gedanke nicht mehr losgelassen, die medizinischen Hilfsmittel des Jungen wie beispielsweise die Magensonde in einem fröhlichen Stoff mit kindgerechten Motiven zu verstecken. „Ich fing an, mich vor eine Nähmaschine zu setzen und es gelang mir rasch, mich mit dieser anzufreunden", erinnert sich Nicole Sarripapazidis. Mithilfe von Youtube-Videos brachte sie sich selbst das Nähen bei. Fröhliche Kleidungsstücke entstanden, mit denen sie nicht nur die komplette Familie eindeckte. Ihr Hund und ihre Katze erhielten neue selbst genähte Decken für die Schlafplätze.
„Nachdem ich einige Monate das Nähen fleißig geübt hatte, entstand mein PEG-Ranzenset, ein niedlicher kleiner Rucksack, in dem der Nahrungsbeutel seinen Platz fand", erzählt die 42-Jährige. Die Fertigung sei so gut gelungen, dass sie als Nächstes einen speziellen Sondenbody für den Jungen genäht habe. Zusätzlich zu der Öffnung unten im Windelbereich arbeitete Nicole Sarripapazidis eine Knopfleiste ein, die über den gesamten Bauch führte. Außerdem nähte sie noch zwei zusätzliche Laschen, die das Verstauen und das Reinigen der Magensonde deutlich vereinfachten. „Als der Rucksack mit dem kindgerechten Stoff endlich fertig war, konnte ich unseren ersten gemeinsamen Spaziergang kaum erwarten, um die Reaktionen der Passanten darauf zu sehen." Und in der Tat hätten sich die Blicke des Mitleids in Blicke der Freude verwandelt. „Die Passanten haben zwar immer noch auf die Hilfsmittel geschaut, aber jetzt habe ich ein Lächeln in ihrem Gesicht gesehen." Um sich Tipps und Anregungen zu holen, schloss sie sich bei Facebook verschiedenen Nähgruppen an. Dort erfuhr sie vom Dortex Design Award, der kreativen Menschen die Möglichkeit bietet, ihre Ideen und Werke in verschiedenen Kategorien zu präsentieren. Um ihre Hilfsmittel zu präsentieren, entstand die Idee, eine Puppe mit Magensonde zu entwerfen. PEGgy – eine Puppe mit einer PEG-Sonde, war geboren. „Als ich die erste Puppe mit Beeinträchtigung entwarf, fiel mir auf, wie makellos Puppen normalerweise sind", erinnert sich die Gründerin der Handicap Dolls. Ihr sei es wichtig gewesen, mit ihren Puppen zu zeigen, dass auch Behinderung zum Leben gehöre. Mit ihren Puppen wolle sie den kleinen Kämpfern das Gefühl vermitteln, dass es da jemand gebe, der genauso ist, wie sie und bei dem sie sich sicher und geborgen fühlen können.
Helfen durch Puppen-Patenschaft
Eine der Handicap Dolls, die Nicole Sarripapazidis in liebvoller Handarbeit und nach intensiven Gesprächen mit der Familie gefertigt hat, ist für die sechsjährige Charlotte aus dem Homburger Ortsteil Kirrberg im Saarland zum absoluten Lieblingsspielzeug geworden.
„Charlotte und ihre Puppe sind unzertrennlich, regelrechte Seelenverwandte", erzählt Charlottes Mama Nina Gölzer. Die Puppe, die die gleichen Narben und Beeinträchtigungen habe wie ihre Tochter sei für diese ein wichtiges Medium. Die Sechsjährige wisse, dass sie behindert sei und gehe damit sehr offen um. Die Puppe trage wie ihre Tochter eine Brille und habe auch eine ähnliche Haarfarbe. Aus alten Kleidern ihrer Tochter habe Nicole Sarripapazidis Kleider für die Puppe genäht. Als sie nach dem Namen für ihre Puppe gefragt wurde, habe Charlotte nicht lange überlegen müssen und sie spontan „Charlotte 2" getauft. Als fürsorgliche Puppenmama gehe sie mit „Charlotte 2" regelmäßig zum Augenarzt. Auch den richtigen Sitz der Orthesen prüft die Puppenmama sorgfältig.
Als Charlotte nach den Sommerferien in die Schule kam, war klar, dass „Charlotte 2" mit zum Unterricht musste. „Dann kann ich den anderen Kindern besser erklären, was mit mir ist." Sie habe „Charlotte 2" sehr lieb und diese dürfe auch bei ihr im Bett schlafen. Das Mädchen wurde mit Spina bifida, im Volksmund auch als offener Rücken bekannt, geboren. Obwohl Charlotte dadurch mit Einschränkungen leben muss und beispielsweise nicht so gut gehen kann, hat sie sich nach den Worten der Mutter zu einem fröhlichen Kind entwickelt. „Wir sind sehr froh, dass unsere Tochter durch eine Puppenpatenschaft ihre ‚Charlotte 2‘ bekommen hat", erklärt Nina Gölzer.
Da die handgenähten Modelle zwischen 300 und 400 Euro kosten, kann sich nicht jede Familie mit einem behinderten Kind eine solche Puppe leisten. Aus diesem Grund bietet Nicoletta Puppen-Patenschaften an. Wer helfen möchte, kann die Kosten für eine Handicap Doll übernehmen und so einem Kind mit Beeinträchtigung zu einem Freund verhelfen, der diesem hilft, den Alltag besser zu bewältigen.