Europa arbeitet in krisengeplagten Zeiten an zahlreichen Baustellen. François Villeroy de Galhau und Joachim Nagel, die Chefs der Zentralbanken aus Frankreich und Deutschland, sind von der Zukunftsfähigkeit einer selbstbewussten EU überzeugt.
Aller guten Dinge sind bekanntlich drei: Europa hat Ideen, Europa hat Ressourcen, aber leider fehlt es an Macht, sprich dem politischen Willen, die Dinge für die Europäer spürbar voranzubringen. „Noch“ könnte man sagen, denn der Druck ist groß, schon aufgrund der geopolitischen Lage und der anstehenden Europawahlen, die großen Themen Energie mit Dekarbonisierung, Digitalisierung, Verteidigung und last but not least Finanzen in die richtigen Bahnen zu lenken und das nationalstaatliche Klein-Klein endlich aufzugeben.

Deutschland und Frankreich gemeinsam
Dass Europa besser als sein Ruf sei, betonten der Gouverneur der Banque de France, François Villeroy de Galhau, und der Präsident der Deutschen Bundesbank, Joachim Nagel. Sogar ganz im Gegenteil: Sie versprühten regelrecht Optimismus, Europa trotz aller Risiken und Unwägbarkeiten als ein Zukunftsmodell zu sehen, das sich in krisengeschüttelten Zeiten gegen die neuen Machtblöcke in der Welt durchaus behaupten könne. Die beiden größten Volkswirtschaften der EU, Deutschland und Frankreich, haben gemeinsam die Kraft, müssten allerdings viel stärker als bisher geschlossen vorangehen und die anderen europäischen Staaten mit ins Boot bekommen. „Das haben wir bei der Geldwertstabilität hinbekommen, denn die Geldpolitik hat in Europa Wirkung gezeigt. Die Inflation liegt in den Euro-Staaten derzeit bei durchschnittlich 2,6 Prozent. Und auch bei der Energie trotz unterschiedlicher Ansichten Deutschlands und Frankreichs haben wir die Abhängigkeit vom russischen Gas überwunden“, so der französische Zentralbankchef. Selbst der Euro sei seit gut 20 Jahren eine Erfolgsgeschichte.
Einigung erzielen, das mag selbst für die Digitalisierung oder auch die Künstliche Intelligenz (KI) durchaus machbar sein, der französische Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire sprach sogar jüngst in Berlin von der europäischen Gemeinschaft für KI, aber in den zentralen Fragen wie Verteidigung, Finanzierung und Schuldenpolitik knirscht es gewaltig im Gebälk der deutsch-französischen Freundschaft. Wenn sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz doch nur halbwegs so gut verstehen würden wie die beiden Zentralbanker, dann wäre schon viel gewonnen. Als Mitglieder des Europäischen Zentralbankrats EZB treffen sich die beiden „Hüter des Geldes“ regelmäßig einmal pro Woche in Frankfurt oder Paris.
Wo liegen nun die größten Herausforderungen für die europäischen Finanzen?
Villeroy de Galhau sieht drei große Bereiche mit hohem Risikopotenzial. „Da ist zum einen die Inflation, die wir aber inzwischen im Griff haben. Da ist zum anderen die grüne und digitale Transformation, die wir finanzieren müssen. Eine gefährliche Situation könnte es bei den internationalen Währungssystemen geben, denn die BRICS-Staaten mit China, Russland, Brasilien, Indien und Südafrika versuchen, eine eigene Leitwährung neben dem Dollar zu etablieren, was auch als Konkurrenz zum Euro zu sehen ist, der in einer Welt der Blöcke eine neue Rolle einnehmen müsste.“
Eine Gefahr für die Stabilität der Finanzen ist nach Ansicht des Bundesbank-Präsidenten Nagel das schwache Wachstum insbesondere in Deutschland. „Bei einer Wachstumsprognose von lediglich 0,8 Prozent – früher waren es rund zwei Prozent – verlieren wir Jahr für Jahr Wachstumsdynamik und damit Wohlstand. Wir fallen im Vergleich zu anderen Ländern vor allem gegenüber den Asiaten und den USA kontinuierlich zurück.“ Die Sorge vor einer falschen Fiskal- und Sozialpolitik sei in diesem Zusammenhang durchaus begründet. Zudem wäre Deutschland inklusive der anderen europäischen Staaten gut beraten, Europa nicht mehr als Mittelpunkt der Welt zu sehen. Alleine das bevölkerungsreichste Land Indien mit 1,2 Milliarden Menschen habe wirtschaftlich gigantisch aufgeholt.
Die Gründe für das schlechte Wirtschaftswachstum sind vielfältig. „Im Vergleich zum Beispiel zu den USA sind wir viel zu langsam in der Umsetzung, es mangelt an Risikokapital und an Veränderungsbereitschaft“, so Nagel weiter. Hinzu komme der Fachkräftemangel aufgrund der schlechten Demografie. Der saarländische Finanzminister von Weizsäcker spricht sogar von einer Gesellschaft mit wenig Dynamik und einer psychologischen Falle. „Das geringe Wirtschaftswachstum verlangsamt zunehmend mehr die Investitionsbereitschaft und fördert die Besitzstandswahrung. Eine Verkrustungsgefahr für ganz Europa und ein Teufelskreis, aus dem wir in ganz Europa unbedingt herauskommen müssen.“
Die Fragmentierung mangels einer echten gemeinsamen europäischen Finanzpolitik ist ein Grundproblem in Europa. „Jedes EU-Land entwickelt seine eigene nationale Strategie, wohlwissend, dass Kräfte bündeln sinnvoller wäre, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Das zeigen ganz deutlich die Ausgaben in der Verteidigungspolitik. Wir haben eine hochfragmentierte Rüstungspolitik in Europa, die bei gemeinsamem Handeln hohe Einsparmöglichkeiten bietet“, betonte von Weizsäcker. Doch Europa sei nun einmal in zwei Lager gespalten, Länder, die mehr Schulden aufnehmen wollen und Länder, die alles über Effizienz und Einsparen regeln wollen. Diese Lager zusammenzuführen, sei eine der größten Herausforderungen in Europa.
Verstärkt in Europa investieren

Die grüne und digitale Transformation, Verteidigung, Innovationen – das kostet Geld, rund 700 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen im Jahr. „Diese Herausforderungen können wir in Europa nicht mit öffentlichen Geldern alleine stemmen“, ist sich Villeroy de Galhau sicher und spricht von der Bildung einer Kapitalmarktunion zur Stärkung der Wirtschaft. „Wir brauchen privates Kapital in Höhe von rund zwei Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts, um den zusätzlichen Finanzbedarf am Kapitalmarkt in der EU mit privaten Mitteln zu decken. Die Kapitalmarktunion wäre in der Lage, damit einen Großteil zu finanzieren. Deutschland und Frankreich müssen vorangehen. „Über 400 Milliarden Euro Überschüsse erzielen die Länder der EU pro Jahr und diese in Europa erwirtschafteten Ersparnisse werden zu großen Teilen leider außerhalb Europas angelegt. Abgeflossenes Geld, das fehlt, um beispielsweise europäische Startup-Unternehmen ab einer gewissen Größenordnung zu finanzieren.“ Die Idee sei es, mit der Kapitalmarktunion Mittel und Wege zu finden, Unternehmen zu überzeugen, verstärkt in Europa zu investieren. Mittlerweile habe Emmanuel Macron die Kapitalmarktunion zur Chefsache erklärt und auch Olaf Scholz habe die Bedeutung erkannt.
Nationale Hemmnisse abschaffen zugunsten von mehr Wachstum und weniger Bürokratie, nationale Befugnisse zugunsten Europas aufgeben, regulatorische Fragen europäisch lösen in einer komplexer gewordenen Welt, das sind zentrale Fragen für eine europäische Finanzpolitik. Sind die EU-Staaten wirklich in der Lage, belastbare Antworten zu liefern? Die Zentralbanken, die einzig und allein für die Geldwertstabilität zuständig sind, können und dürfen nur Ratschläge geben. Maßnahmen entwickeln und umsetzen muss die Politik. Und zwar dringend, sonst läuft Europa Gefahr zu zerbersten, wenn die europafeindlichen und rechtspopulistischen Kräfte immer mehr die Oberhand gewinnen.