Henry Kissinger feiert am 27. Mai seinen 100. Geburtstag. Er ist fraglos der berühmteste und gleichzeitig umstrittenste US-Außenminister des 20. Jahrhunderts. Für die einen ist er eine mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete politische Jahrhundertgestalt – für andere ein Kriegsverbrecher.
Auch wenn der Einfluss der Gene neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge gar nicht so entscheidend für ein langes Leben ist, so scheint die Familie Kissinger doch das Gegenteil zu belegen. Sowohl Mutter als auch Vater und Bruder von Henry Kissinger wurden allesamt mehr als 95 Jahre alt. Und obwohl sein jüngerer Bruder Walter zu einem erfolgreichen Wirtschaftsmanager in den USA aufstieg und schon wenige Jahre nach der Einwanderung 1938 ein akzentfreies Englisch sprach, blieb er zeitlebens in der Öffentlichkeit im Schatten des prominenten Henry. Dieser prägte die außen- und sicherheitspolitischen Geschicke der amerikanischen Supermacht als Vertreter einer harten Realpolitik rund ein Jahrzehnt lang vom Ende der 1960er- bis zum Ausgang der 1970er-Jahre mit den damaligen Brennpunkten Chile, Vietnam und Naher Osten – ohne dabei jemals seinen fränkisch-deutschen Akzent ablegen zu können.
Seine Analysen sind bis heute gefragt
Selbst Jahrzehnte nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik 1977 sind die Analysen des einst mächtigen nationalen Sicherheitsberaters und US-Außenministers Henry Kissinger zu zentralen weltpolitischen Themenkomplexen noch immer sehr gefragt und werden oft auch heftig kontrovers diskutiert.
Aus jüngster Vergangenheit dürfte Kissingers Auftritt beim Weltwirtschaftsforum im Schweizer Davos im Mai 2022 in Erinnerung sein. Da gab der Altvater der US-Diplomatie der Ukraine den Ratschlag, Russland zum Erreichen eines Friedensschlusses eigene Territorien abzutreten, nämlich die Krim sowie die Gebiete Donezk und Luhansk. Zudem warnte er den Westen vor einer demütigenden Niederlage Russlands, die die europäische Stabilität dauerhaft gefährden könnte. Im Januar 2023 hatte er einen Friedensplan zur Beendigung des Konflikts vorgelegt. Dabei hatte er sich überraschend für einen Nato-Beitritt der Ukraine ausgesprochen und als Basis für einen Waffenstillstand den Frontverlauf entlang der 2014 von Russland annektierten Krim und der von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete in Donezk und Luhansk vorgeschlagen.
Trotz diverser gesundheitlicher Malaisen wie mehrerer Herzoperationen und obwohl er mittlerweile auf einen Gehstock angewiesen ist, ist der gebürtige Fürther auch kurz vor seinem 100. Geburtstag geistig noch topfit und verbringt als ewiger Workaholic nach eigenem Bekunden noch immer 15 Stunden täglich an seinem Schreibtisch. Wobei er inzwischen nur noch zu besonderen Anlässen die für ihn beschwerliche Anreise zum Büro seines 1982 gegründeten Beratungsunternehmens „Kissinger Associates“ in der standesgemäß noblen New Yorker Park Avenue im Stadtteil Manhattan antritt. Ansonsten pflegt er seine Einschätzungen zur Weltlage für zahlungskräftige Kunden in seinem Haus in Kent im US-Bundesstaat Connecticut anzufertigen. Verheiratet ist er seit 1974 mit seiner inzwischen auch schon 89-jährigen Ehefrau Nancy, einer aus Manhattan stammenden Philanthropin. Zuvor war Kissinger bis zur Scheidung 1964 mit seiner ersten Frau Ann verheiratet, mit der er die beiden Kinder Elisabeth und David hat.
Warnte früh vor Chinas Aufstieg
Um Kissingers politisches Denken und Handeln nachvollziehen zu können, muss man sich seine grundlegende Prämisse vor Augen führen. Seit Beginn des Kalten Krieges ließ er sich von einem strikten, militanten und unduldsamen antikommunistischen Weltbild leiten. Kissinger war ein Kalter Krieger der realpolitischen Sorte, der bei seinen Entscheidungen im Zweifelsfall die US-Interessen ganz pragmatisch immer über die aus seiner Sicht nebulös-schwammigen Werte wie Moral oder Ethik gestellt hat. Er akzeptierte das bipolare System mit den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion und versuchte immer, das Gleichgewicht zwischen diesen beiden dominierenden Großmächten möglichst aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig erkannte er aber schon früh die Gefahr durch das aufstrebende China, das diese sogenannte Balance of Power ins Wanken bringen konnte.
Ideologisch wurde Kissinger immer wieder – mal bewundernd, mal mit unverhohlener Abscheu – eine große Nähe zu berühmten Staatsphilosophen, Historiografen und Politikern wie Machiavelli, Leopold von Ranke, Metternich oder Bismarck nachgesagt. Doch letztlich war für Kissinger Außen- und Sicherheitspolitik immer nur reine US-Machtpolitik. „Moral hat in der Außenpolitik auch nichts zu suchen – sie ist einfach kein geeigneter Maßstab“, schrieb die „Welt“ in einem durchaus diskussionswürdigen Statement, welches aber das Problem mit der Einschätzung des Politikers Kissinger auf den Punkt bringt.
An keinem anderen US-Außenminister und -Sicherheitsexperten des 20. Jahrhunderts scheiden sich bis heute auch nur annähernd so stark die Geister. Für die einen ist Kissinger ein diplomatisches Genie, „ein Staatsmann von Bismarck’schem Format, Großmeister der Realpolitik, Friedensstifter und, zeitlebens in Sorge, ein Praktiker des Mächtegleichgewichts“, schrieb sein wohl größter Bewunderer Theo Sommer, der langjährige Chefredakteur und Herausgeber der „Zeit“. Für andere ebenso prominente Zeitgenossen wie Hans Magnus Enzensberger oder den Politikwissenschaftler Alfred Grosser ist Kissinger, der eng mit Bundeskanzler Helmut Schmidt befreundet war, schlichtweg ein „notorischer Kriegsverbrecher und Lügner“.
Beide Seiten können überzeugende Argumente ins Feld führen. Da gibt es den verdienstvollen Vermittler, dem 1973 dank seiner berühmten „shuttle diplomacy“ die Beendigung des Jom-Kippur-Krieges im Nahen Osten gelang. Dann den Strategen, dem im gleichen Jahr das Waffenstillstandsabkommen zwischen Nord- und Südvietnam zu verdanken war, wofür er 1973 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Oder den Hauptverantwortlichen für die ersten erfolgreichen und 1972 im „SALT I“-Vertrag besiegelten Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion.
Aber da gibt es andererseits auch den Politiker Kissinger, dem entscheidende Verstrickungen in unrühmliche US-Aktivitäten vorgeworfen werden. Beispielsweise der Sturz und die Ermordung des gewählten chilenischen Präsidenten Salvador Allende im September 1973 zugunsten des Diktators Augusto Pinochet, die Unterstützung der Militärdiktatur in Argentinien, die Duldung der Todesschwadronen in Lateinamerika und der unter dem Codenamen „Operation Condor“ berüchtigten südamerikanischen Geheimdienst-Exzesse, die Unterstützung des Apartheid-Regimes in Südafrika, die unnötige Verlängerung des Vietnamkrieges mit Rücksicht auf den Ausgang des US-Präsidentenwahlkampfes oder die katastrophale Bombardierung des neutralen Kambodschas zur Zerschlagung von Nachschublinien des Vietcongs.
Zu all diesen Anschuldigungen hat sich Kissinger in tiefes Schweigen gehüllt und auch keinerlei juristische Schritte gegen seine „Kriegsverbrecher“-Anschuldiger einleiten lassen. Allerdings hat er bislang weitgehend erfolgreich die Veröffentlichung von offiziellen Dokumenten, Tonbandmitschnitten oder Gesprächskontrollen aus seiner Amtszeit verhindern können.
Zu Anschuldigungen stets geschwiegen
Dem am 27. Mai 1923 in Fürth geborenen Heinz Alfred Kissinger, der schon seit frühen Kindheitstagen ein glühender Anhänger der Spielvereinigung Fürth (heute SpVgg Greuther Fürth) gewesen war, war 1938 gemeinsam mit seiner jüdischen Familie die Flucht vor den Nazis ins rettende Amerika gelungen. Zunächst wohnte die Familie in der New Yorker Bronx, zwei Jahre später zogen die Kissingers ins deutsch-jüdisch geprägte Manhattaner Viertel Washington Heights um. Er wandelte seinen Vornamen in Henry ab und besuchte zwischen 1938 und 1941 die renommierte George Washington High School in New York. Danach wechselte er mit dem Berufswunsch Rechnungsprüfer auf das New Yorker City College und trug durch Jobben in einer Rasierpinselfabrik und als Bäckereikurier zum Lebensunterhalt der Familie bei. Nach dem Erwerb der US-Staatsbürgerschaft wurde er 1943 zum Militär eingezogen, wurde zum Krieg nach Europa geschickt, wo er bei der Spionageabwehr eingesetzt wurde. 1947 kehrte er in die USA zurück.
Dort legte er an der Harvard University dank starker Protektion gleich eine steile Karriere in den Fächern Geschichte und Politikwissenschaften hin. Mit seiner brillanten Dissertation rund um die Rolle von Metternich auf dem Wiener Kongress und Aufsehen erregenden Frühschriften wie „Das Gleichgewicht der Großmächte“ aus dem Jahr 1954 oder das 1957 folgende „Nuklearwaffen und Außenpolitik“ wurde der Harvard-Professor schon bald darauf als aufgehender Stern für höhere Aufgaben im US-Staatsdienst gehandelt.
Das Fußball-Herz schlägt für Fürth
Zunächst beriet er den New Yorker Gouverneur Nelson Rockefeller, auch mit Präsident John F. Kennedy stand er in Gedankenaustausch. Doch der große politische Durchbruch gelang ihm erst 1968, als er von Präsident Richard Nixon zunächst als nationaler Sicherheitsberater ins Weiße Haus geholt und schließlich 1973 zum US-Außenminister ernannt wurde. Auch nach Nixons Watergate-Affäre übte Kissinger das Amt des Außenministers unter Präsident Gerald Ford bis 1977 weiter aus.
Seiner Liebe zum Fußball blieb er treu. 1978 wurde er zum Vorsitzenden der North American Soccer League ernannt. Seine anhaltende Leidenschaft für seinen Fürther Kindheitsclub bekundete er nach dem Bundesliga-Aufstieg durch den Besuch eines Heimspiels im September 2012.