Vom 17. bis zum 19. November steigt das deutschlandweite Festival „Zeit für Zirkus“ zum nunmehr dritten Mal in den Ring. Die in Deutschland noch relativ junge Kunstform findet bundesweit in zwölf Städten statt.
Anfang November in einem Probenraum im Keller in Berlin-Kreuzberg. Auf dem weißen Kunststoffboden sind über ein Dutzend weiße Holzklötze und Stelen wie eine Skulptur aufgebaut. Auf einem der Objekte liegt ein großer, schwerer Stein, auf einem anderen ein paar Jonglierbälle und auf dem dritten steht ein leeres Weinglas. Benjamin Richter nähert sich dem zerbrechlichen Objekt. Dann berührt er das Gefäß behutsam und sanft mit seinem kleinen Finger an der Innenseite. Kaum zwei, drei Zentimeter Hautkontakt zwischen Fingerkuppe und Glas reichen aus, um es nicht nur in Bewegung, sondern auch zum Schweben zu bringen. So sieht es zumindest aus Sicht der Beobachterin aus, die fürchtet, dass das Weinglas jeden Moment herunterfallen und zerbrechen wird. Aber nichts dergleichen geschieht. Behende lässt der Künstler das Glas durch die Luft fliegen, um es elegant wieder aufzufangen, so als sei es eine herabfallende Schneeflocke. „Ich möchte das Gefühl des Risikos, das man bei einem Drahtseilakt spürt, auf andere Objekte übertragen“, sagt der in Hameln geborene und in England aufgewachsene Jongleur und Tänzer. Nach und nach kommen auch die anderen Objekte wie Steine und Holzklötze mit ins Spiel. Sie fliegen und werden wieder aufgefangen, werden miteinander arrangiert, aufeinander und nebeneinander gelehnt, gelegt oder gestellt. Wie ein Bildhauer erschafft Benjamin Richter mit seiner Performance „Taktil“ immer wieder neue, jonglierte Skulpturen. Sie entstehen in einem Augenblick und werden im nächsten schon wieder dekonstruiert. So entwickelt sich ein visueller Dialog zwischen Mensch und Objekt, die der Jongleur „bespielte Ausstellung“ nennt.
Lokaler Schwerpunkt ist dieses Jahr Berlin
Benjamin Richters Performance ist eine von vielen an den über 30 Spielorten des Festivals „Zeit für Zirkus“. In zwölf Städten von Hamburg über Berlin und Dresden bis Karlsruhe und München findet das dreitägige Event vom 17. bis zum 19. November zum dritten Mal statt. Wie in den vergangenen zwei Jahren kooperieren die Festivalmacher mit der „Nuit de Cirque“ in Frankreich, die in der Grande Nation schon seit Jahren eine feste Größe in der Kulturlandschaft darstellt. Zusätzlich zur Einbindung in den Regionen wird erstmals ein lokaler Schwerpunkt etabliert, der auch in den kommenden Jahren fortgeführt werden soll. In diesem Jahr ist es Berlin.
„Unsere Vorstellungen von Zirkus sind häufig von alten traditionellen Sichtweisen geprägt, da ist man in anderen Kunstformen wie etwa bei der Musik viel offener“, sagt die Projektleiterin Cox Ahlers im Gespräch. In anderen europäischen Ländern wie etwa Frankreich, Belgien, Großbritannien oder Skandinavien sei man schon weiter. Das ist auch der Grund, dass sich viele deutsche Artistinnen und Zirkuskünstler im europäischen Ausland ausbilden lassen. In Frankreich wurde der zeitgenössische Zirkus bereits in den 1970er-Jahren gefördert. „Zeitgenössischer Zirkus ist eine Kunstform, für die wir in Deutschland schon viel Graswurzelarbeit gemacht haben und weiterhin eine differenzierte Sicht darauf brauchen“, sagt die Projektleiterin, selbst Tanzakrobatin, die ihre Ausbildung an der „Hochschule für Zirkuskunst“ (ESAC) in Brüssel absolviert hat. Zentrale Komponenten des Festivals sind Vielfalt und Bandbreite. Das zeigt sich in den verschiedenen Formaten von einem interaktiven Solo-Kurzstück (Erin Skye – „A Circle of Exchange“) bis zum abendfüllenden Stück eines vielköpfigen Ensembles (Gravity & Other Myths – „The Mirror“). Erin Skyes Solo-Performance etwa ist ein 40-minütiges experimentelles Zirkusstück voll zartem Flüstern und verschiedenen Zirkusdisziplinen. Mithilfe mehrerer einfacher Schnurtelefone lädt die Künstlerin ihr Publikum zu überraschend intimen Gesprächen untereinander ein. Damit wird der Zuschauer zum Zuhörer.
Der Facettenreichtum zeigt sich auch in der Vielfalt der Spielstätten: Dazu zählen etwa eine Galerie auf einem Schiff oder ein 1920er-Jahre-Theatersaal, eine ehemalige Fabrikhalle, die nun ein Trainingsstudio ist, oder ein Zirkuszelt. Erzählerisch über gesellschaftskritisch bis zu abstrakt experimentell werden die verschiedenen Details dem neugierigen Publikum nahegebracht.
Roman Škadra etwa interpretiert Albert Camus’ „Mythos von Sisyphos“ mit einer Laufkugel neu. In seinem minimalistisch-ästhetischen Gesamtkunstwerk „Absurd Hero“ stellt der in der Slowakei aufgewachsene Artist in Anlehnung an den tragischen Helden Urfragen des menschlichen Daseins. In fünf Szenen setzt sich Škadra mit der Kugel auseinander. In einer der Szenen versucht er, auf der Laufkugel liegend, unzählige Jonglierbälle aufzufangen.
„Manchmal klappt es und manchmal nicht und das Publikum fiebert mit“, sagt er. „Dabei übernehme ich keine Rolle wie ein Schauspieler in einem Theaterstück.“ Es sei immer noch er selbst, der sich im gegenwärtigen Moment mit den Objekten auseinandersetzt. „Zeitgenössischer Zirkus ist vor allem eines: unmittelbares Erlebnis und gemeinsame Erfahrung“, sagt Heike Diehm, Sprecherin von „Zeit für Zirkus“. „Es gibt wohl kaum eine andere Sparte in den Darstellenden Künsten, die Zuschauende und Handelnde derartig eng verbindet.“ Diese Kunstform spielt mit dem Risiko, mit Spannung und mit den Erwartungen der Zuschauenden. „Was auf der Bühne geschieht, geschieht gerade jetzt, ist echt. Die Emotion, die daraus entsteht, ist es auch.“
Teilhabe und Inklusion werden groß geschrieben
Eine ganz andere Facette präsentiert die Zirkuskünstlerin Jarmila Lee-Lou mit ihrer Performance „Seide und Stahl“. Die Artistin befasst sich mit den disziplinären und vergeschlechtlichten Widersprüchlichkeiten der weiblich konnotierten Luftartistik und dem männlich konnotierten Kraftsport. In Zusammenarbeit mit Zirkusartistinnen und Kraftsportlerinnen nähert sie sich explorativ einem gesellschaftlichen und künstlerischen Paradox. Motiviert von feministischer Kritik an Körpernormen und -interpretationen knüpft die Performance an aktuelle Diskurse an. Somit transformiert es diese durch starke Bildsprache in ein Zirkusstück, das Sichtbarkeit erzeugen will für all jene, die als zu viel, zu groß, zu verletzt oder zu verwundet gelten. Ebenfalls feministisch ist es auch in dem sozialkritischen Solo-Stück „Inside“ von Leila Köckenberger. Die Artistin lässt die neue Zirkuskunst mit der alten Kunst des Märchenerzählens miteinander verschmelzen. Ihr ganz eigener Stil mit der Mischung aus Luftakrobatik, Balance-Akten und Fakirismus verhandelt Themen wie Schwangerschaft und Gefangenschaft.
Auch Teilhabe und Inklusion werden auf dem Festival großgeschrieben. Daher wird unter anderem ergänzend zu den Live-Aufführungen in den diversen Spielstätten ein ausführliches Begleitprogramm mit Watch and Talk-Formaten, Open Stages und Workshops geboten. Bei Luftakrobatik-Workshops etwa können Anfängerinnen und Fortgeschrittene am Zirkustraining teilnehmen. Zudem gibt es eine Ausstellung: Im „90 mil“ lenkt Charlie Wanda mit ihren lebensgroßen Projektionen von gezeichneten Zirkuskörpern den Blick auf das Bizarre, Gefährliche und Verletzliche. Am selben Ort findet am Sonntagabend auch die große Abschluss-Party statt, inklusive einer Performance von Moritz Lucht und einem Zirkus-Konzert der Band Laturb.