Frankreich leistet friedlichen Widerstand gegen das Geschäftesterben auf dem Land: Die Epicerie ist zurück. Als Genossenschaftsmodell soll sie die Nahversorgung in kleinen Läden um die Ecke erschwinglich halten.
Viel Verpackung, wenig Inhalt, hohe Preise – die „Shrinkflation“ bei Lebensmitteln treibt auch im Nachbarland Frankreich seltsame Blüten. Die großen Supermarktketten haben längst den Markt unter sich aufgeteilt, drehen beliebig an der Preisschraube zu Lasten der Konsumenten und der vielen kleinen Geschäfte, die bei der Preisgestaltung der Lebensmittelprodukte schon lange nicht mehr mit den Großen der Branche mithalten können. Die Folge: Immer mehr der noch rund 7.000 existierenden Tante-Emma-Läden in ganz Frankreich, die so genannten Epicerien, geben entweder auf oder sie finden keine Nachfolger; die Verbraucher, insbesondere auf dem Land, müssen zunehmend weitere Wege für ihre Versorgung zurücklegen. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt?
Dorfladen statt Supermarktkette
Nein, es regt sich Widerstand gegen diese so unheilvolle Entwicklung. Nicht etwa mit Streiks oder gewaltvollen Protestaktionen, wie wir sie aus Frankreich vielfach kennen, sondern vielmehr mit neuen Ideen und Konzepten zur Selbsthilfe, ganz ohne staatliche Unterstützung, dafür mit viel Idealismus und Engagement. Seit geraumer Zeit entstehen im ganzen Land sogenannte unabhängige „Epiceries libres“ in Selbstverwaltung, eine Art Genossenschaft ohne Gewinnabsicht, somit ohne Steuern, ohne hierarchische Strukturen, also ohne Chef und Angestellte, ohne Organe und ohne aufwändiges Kassensystem. Ein Modell, bei dem prinzipiell alle Bürgerinnen und Bürger mitmachen können, ihre Fähigkeiten ehrenamtlich einbringen, und das auf der Basis von Vertrauen funktioniert. Das Ziel: die Nahversorgung mit Lebensmitteln zu fairen Preisen aus der Region verbessern.
Das Prinzip klingt einfach: Wer mitmachen will, zahlt auf ein Konto im Vor-aus eine Summe ein, für die er Lebensmittel in seiner Epicerie libre einkaufen möchte. Das Geld dient zuallererst dazu, den Grundstock an Produkten sicherzustellen. Schließlich müssen die Lebensmittel über ausgewählte Großhändler, die dieser Idee nahestehen, oder bei lokalen Produzenten beschafft werden. Die Preise werden eins zu eins weitergegeben, ohne Gewinnaufschlag und damit ohne Steuern. Der Genosse der Epicerie libre kann für seine eingezahlte Summe einkaufen, notiert lediglich auf einer Karte für wie viel, denn eine Kasse mit Bargeld, Schecks oder Karten existiert nicht. Alles basiert auf Vertrauen und vor allem Freiwilligkeit. Wer mitmacht, sollte neben Geld zum Beschaffen der Ware und zur Deckung der Betriebskosten wie Strom, Wasser oder eventuell anfallender Ladenmiete auch den Willen zur freiwilligen Arbeitsleistung mitbringen.
So sind Öffnungszeiten zu organisieren oder das Bestellen der Lebensmittel, das Einräumen in die Regale oder eben einfach mal das Kehren des Ladenlokals oder das Entsorgen der Verpackung. Ein Ort, wo der Kunde kein König ist, denn die Kunden sind die Genossen selbst. Ein Modell, das sehr stark an ehrenamtliche Vereinsarbeit erinnert, bei dem in der Praxis manche mehr, manche weniger freiwillig leisten.
Aber es scheint zu klappen, allerdings bisher nur in Frankreich. Die Epicerie libre in der 10.000 Seelen-Gemeinde Villers-Cotterêts in Nordfrankreich existiert nun schon im fünften Jahr. Sie dient in der Szene als Leuchtturmprojekt und zeigt, dass alternative Versorgungskonzepte keine Utopie bleiben müssen. Rund 20 Genossenschaften in Selbstverwaltung sind in den letzten fünf Jahren in Frankreich entstanden, allen voran in der Region Hauts-de-France und die Anzahl wächst. So hat sich in dem Vogesenörtchen Meisenthal 50 Kilometer von Saarbrücken entfernt die Künstlergemeinschaft Artopie (ein Wortspiel aus „art“, also Kunst, und Utopie) der Idee der Epicerie libre angenommen – als bisher einzige Kommune in Grand Est. Noch im September soll der Versuchsballon starten, zwar im kleinen Stil, wie Philippe von Artopie betont, aber dafür mit viel Engagement.
Ohne Gewinnerzielungsabsicht
Die Räumlichkeiten in der Dorfmitte stehen bereit, dort wo sonst der alternative Weihnachtsmarkt stattfindet mit selbstgemachten Produkten aus der Region. Die Regale und Kühlschränke haben die rund 40 Mitglieder von Artopie schon in Corona-Zeiten zusammengesucht, durch Spenden oder eigene Handwerksarbeit.
Bei der ersten Infoveranstaltung im August zur Epicerie libre waren bereits 50 Interessenten anwesend, und diese wären bereit, im ersten Schritt schon mal rund 5.000 Euro als Einkaufsguthaben einzuzahlen. Es war durchaus beeindruckend, dass in der auf eine Stunde festgelegten Diskussionsrunde alle wichtigen Schritte für den Start in die Wege geleitet wurden: von der Festlegung der Kommunikationsmittel unter den Mitgliedern über die Organisation von Kleingruppen zur Übernahme der Bestellung bis hin zur Einteilung von Arbeitsgruppen.
Machen und Ausprobieren ohne Angst vor Fehlern! - so heißt hier die Devise. Und vor allem: Langsam wachsen! „Wir werden eine Menge lernen“, ist sich Philippe, der bei diesem Projekt mitmacht, sicher, dass das Modell funktionieren kann. Zunächst ist eine Anzahl an nicht verderblichen Lebensmitteln vorgesehen. Ob Frischprodukte wie Fleisch, Käse und Gemüse in welcher Form auch immer dazukommen, werde man sehen. Ziel sei es auf jeden Fall, möglichst wenig Ausschuss zu haben, denn Verluste an verderblichen Lebensmitteln müssten die Mitglieder gemeinsam tragen.
Dass Alternativen zu den großen Supermarktketten angenommen werden, zeigt bereits seit zwei Jahren der einmal pro Woche organisierte Abendmarkt auf dem Gelände von Artopie. Biohändler aus der Region verkaufen innerhalb von zwei Stunden ihre frischen Waren, und wie es sich für einen Dorfmarkt gehört, hat er sich auch zu einem Treffpunkt entwickelt, bei dem bei einem Gläschen Wein zu selbst eingeschätzten Preisen Neuigkeiten und Dorftratsch ausgetauscht werden. Scheinbar funktioniert auch das Marketing, anders als bei herkömmlichen Modellen. Aber wir sind schließlich in Frankreich, wo Kommunikation anders gelebt wird als in Deutschland und wo vor allem das Aufbegehren gegen die Großen in der Wirtschaft oder die Politik tief in der Seele verankert zu sein scheint. Die Utopie kann hier durchaus Wirklichkeit werden, so dass der Traum Philippes von einer Epicerie libre wahr wird.