Nach dem ernüchternden Aus von Luciano Spalletti übernimmt Gennaro Gattuso die italienische Nationalmannschaft – als Symbolfigur mit Biss, aber ohne großen Trainererfolg. Was verspricht sich der Verband davon, und wie groß sind die Baustellen bei der „Squadra Azzurra“?

Die italienische Fußballnationalmannschaft hat einen neuen Trainer – und setzt dabei auf einen Mann, der vor allem durch seine Vergangenheit als Spieler überzeugt. Gennaro Gattuso, 47 Jahre alt, Weltmeister von 2006 und langjähriger Profi des AC Mailand, ist offiziell als Nachfolger des entlassenen Luciano Spalletti vorgestellt worden. Die Entscheidung traf der italienische Fußballverband FIGC nach turbulenten Tagen, in denen die Nationalelf sportlich und personell ins Wanken geraten war. Für Gattuso ist es die erste Station als Nationaltrainer, bislang coachte er ausschließlich Vereinsmannschaften. Sein Vertrag gilt zunächst für ein Jahr – bis zur Fußball-Weltmeisterschaft 2026 in den USA, Kanada und Mexiko.
Neuland für den neuen Coach
Der Trainerwechsel ist eine direkte Reaktion auf die jüngsten sportlichen Enttäuschungen. Das 0:3 in Norwegen markierte den Tiefpunkt der Qualifikation unter Spalletti. Zwar durfte er das Team noch einmal betreuen – beim dürftigen 2:0-Sieg gegen Moldawien –, doch das Vertrauen war nicht mehr da. Der Verband sah sich zum Handeln gezwungen. Die Hoffnung auf eine direkte WM-Qualifikation ist zwar rechnerisch noch nicht dahin, aber angesichts der gezeigten Leistungen schwindet das Zutrauen in das bestehende Konzept. Mit Gattuso soll nun ein neuer Geist in die Mannschaft einziehen, geprägt von Einsatz, Leidenschaft und Klarheit.

Dabei verlief die Trainersuche alles andere als reibungslos. Der Wunschkandidat Claudio Ranieri, mittlerweile 73 Jahre alt und eine Ikone des italienischen Fußballs, sagte dem Verband nach kurzem Überlegen ab. Zwar sprach er von einer großen Ehre, die Nationalmannschaft übernehmen zu dürfen, entschied sich aber letztlich dagegen und bleibt in beratender Funktion bei der AS Roma. Auch andere Optionen wie Stefano Pioli, derzeit auf dem Sprung zur AC Fiorentina, kamen letztlich nicht infrage. Namen wie Fabio Cannavaro, Daniele De Rossi oder Andrea Pirlo kursierten – alle Teil jener Weltmeistergeneration von 2006 –, doch keiner von ihnen konnte sich durchsetzen.
Gattuso war schließlich die pragmatische Wahl. FIGC-Präsident Gabriele Gravina bezeichnete ihn als „Symbol des italienischen Fußballs“, das Nationaltrikot sei für ihn „wie eine zweite Haut“. Auch Gianluigi Buffon, Weltmeisterkollege und heute Delegationsleiter bei der Nationalmannschaft, lobte die Entscheidung: „Das ist die bestmögliche Wahl fürs Nationalteam.“ Die Worte sollen Vertrauen schaffen, doch sie stehen im Kontrast zur Stimmung im Land. Denn viele Fans und Beobachter zeigen sich skeptisch. Zu durchwachsen ist Gattusos Trainerkarriere bisher verlaufen. Er steht für Leidenschaft, keine Frage – aber eben nicht für nachhaltigen sportlichen Erfolg.
Sinnbild eines Kämpfers

Als Spieler war Gattuso das Sinnbild des kompromisslosen Kämpfers. Seine Karriere krönte er mit dem WM-Titel 2006, dazu zwei Champions-League-Siege, ein italienischer Meistertitel und ein Pokalsieg mit Milan. Doch sein Weg an der Seitenlinie war holpriger. Nach einem Kurzzeit-Engagement beim FC Sion in der Schweiz wurde er in Palermo, Kreta und Pisa tätig, ehe er zur U23 von Milan zurückkehrte und schließlich auch die Erste Mannschaft übernahm. Dort zeigte er Ansätze, konnte sich aber nicht dauerhaft behaupten. Bei Napoli gelang ihm mit dem Pokalsieg 2020 sein bislang einziger Titel als Trainer. Danach folgten Stationen bei Valencia und Marseille, beide blieben von Spannungen, Missverständnissen und mangelnden Erfolgen geprägt. Zuletzt arbeitete er bei Hajduk Split in Kroatien, wo er mit Fabio Cannavaro, damals Coach bei Dinamo Zagreb, um den Titel kämpfte – am Ende wurde Rijeka Meister.
Gattusos Verpflichtung löste kaum Begeisterungsstürme aus. Während Buffon betont, dass man nun nach schwierigen Phasen wieder bei sich selbst anfangen müsse, stellt sich für viele die Frage: Reicht Gattusos Erfahrung? Oder anders gefragt: Was qualifiziert ihn wirklich für diese Aufgabe? Im Vergleich mit seinen ehemaligen Mitspielern steht Gattuso nicht unbedingt besser da. Fabio Cannavaro etwa erzielte mäßige Ergebnisse in China und Kroatien, Alessandro Nesta kämpfte erfolglos mit Frosinone und Monza, Massimo Oddo wurde öfter entlassen, als er gewinnen konnte, Andrea Pirlo hatte bei Juventus einen Pokalerfolg, hatte aber letztlich auch nicht überzeugt. Viele Helden von 2006 versuchten sich als Trainer – mit eher bescheidenen Resultaten. Einige wie Alessandro Del Piero oder Luca Toni machten lieber als TV-Experten Karriere.

So steht Gattuso für eine Generation, die als Spieler glänzte, als Trainer aber noch nicht auf ähnlichem Niveau angekommen ist. Vielleicht ist es aber gerade diese Biografie, die ihn für den Verband interessant macht. Einer, der sich durchbeißen musste, der nie aufgehört hat, an sich zu arbeiten. Einer, der weiß, was es heißt, auf dem Rasen alles zu geben – auch wenn die Taktik nicht immer perfekt ist. „Seine Motivation, seine Professionalität und seine Erfahrung werden von grundlegender Bedeutung sein“, betonte Gravina bei der Vorstellung.
Ob das reicht, wird sich schnell zeigen müssen. Denn der Spielplan lässt kaum Raum zum Durchatmen. Schon Anfang September stehen zwei Schlüsselspiele an: Zunächst trifft Italien auf Estland, drei Tage später geht es in Ungarn gegen Israel. Beide Partien müssen gewonnen werden, will man den Anschluss in der Gruppe nicht endgültig verlieren. Italien steht derzeit nur auf Platz drei. Der Gruppensieg ist Pflicht, andernfalls droht der Umweg über die Play-offs – ein Szenario, das schon zweimal in Folge zur Nicht-Teilnahme an einer WM geführt hat. Noch einmal darf das nicht passieren.
Identität ging verloren

Die Situation ist also ernst. Italien kämpft nicht nur um Punkte, sondern auch um sein Selbstverständnis. Der letzte große internationale Triumph liegt fast zwei Jahrzehnte zurück – die WM 2006 in Deutschland. Seither blieb Italien bei Weltmeisterschaften blass oder gar abwesend. Auch die erfolgreiche EM 2020 wirkt heute wie ein Ausnahmefall, nicht wie der Beginn einer neuen Ära. Vielmehr hat sich in den letzten Jahren eine gewisse Orientierungslosigkeit breitgemacht. Die „Squadra Azzurra“ hat ihren Stolz, ihre Identität und auch ihre Stabilität verloren.
Gattuso soll diese Eigenschaften zurückbringen. Nicht mit komplizierten taktischen Konstruktionen, sondern mit Klarheit, Mut und Leidenschaft. Er steht für eine direkte Ansprache, für Disziplin, für das, was vielen in der Nationalelf zuletzt gefehlt hat. Ob ihm das gelingt, hängt nicht nur von seiner Person ab, sondern auch davon, wie sehr die Mannschaft bereit ist, diesen Weg mitzugehen. Die Voraussetzungen sind schwierig, aber nicht hoffnungslos.
Der Auftrag ist klar: Die WM-Teilnahme darf nicht erneut verpasst werden. Und mehr noch – Italien will mehr als nur dabei sein. Seit 2006 hat man bei Weltmeisterschaften nicht einmal mehr die Gruppenphase überstanden. Das muss sich ändern. Es ist eine gewaltige Herausforderung für einen Trainer, der zwar kein Taktikgenie ist, dafür aber eine klare Handschrift besitzt. Vielleicht ist es genau das, was Italien jetzt braucht: keinen Startrainer, sondern jemanden, der den Kern des Spiels wieder in den Vordergrund rückt – Einsatz, Kampfgeist, Zusammenhalt.
So beginnt nun also eine neue Phase im italienischen Fußball, erneut mit einem Mann aus der goldenen Generation von 2006. Diesmal ist es Gattuso, der das Ruder übernimmt. Sein Weg war nie gerade, nie glänzend – aber immer geprägt von Biss. Genau diesen Biss braucht die Nationalmannschaft jetzt. Und wenn ihm gelingt, daraus wieder eine funktionierende Einheit zu formen, dann könnte der knurrige Ex-Profi tatsächlich zur richtigen Wahl geworden sein.