Kanzler Olaf Scholz hat nach einem sehr holprigen Start in die Regierungsgeschäfte gehofft, dass die zweite Hälfte der Legislatur geschmeidiger wird. Aber es knirscht weiter zwischen den Ampel-Partnern – und die Herausforderungen werden nicht geringer.
Die Präsidentin der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, Andrea Nahles (SPD), versucht, den eher betrüblichen Zahlen der Arbeitslosenstatistik für Juli etwas Gutes abzugewinnen. Nicht nur die Zahl der Erwerbslosen in Deutschland in diesem Sommer ist ungewöhnlich hoch, sondern auch die Zahl der offenen Stellen. Den Anstieg der Arbeitslosenzahlen im Juli begründet Nahles mit saisonalen Besonderheiten. Fachleute runzeln die Stirn. Es hat beinahe keine Frühjahrsbelebung auf dem Arbeitsmarkt stattgefunden, und die Arbeitslosigkeit im Juli ist bis auf die zweite Stelle nach dem Komma der Millionenzahl exakt so hoch wie im Januar und Februar dieses Jahres: 2,62 Millionen. Das wurde im Winter noch mit den Spätwirkungen der Pandemiemaßnahmen begründet. Doch die sind nun schon lang ausgelaufen.
Nicht nur für Arbeitsmarktexperten ist das ein Alarmsignal, sondern auch für die Politik. Von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ist aber zunächst nichts zu hören.
Mehr Arbeitslose – höhere Schulden
Der stille Koalitionsvertrag-Abarbeiter in der Ampel ist derzeit im Urlaub und sonnt sich offenbar noch im Licht des auf 12 Euro erhöhten Mindestlohns. Für die Betroffenen ist auch dieser Lohnzuwachs aufgrund der hohen Inflation im konsumtiven Bereich, also des alltäglich Lebensnotwendigen, weitgehend verpufft. Auch dem Bundesarbeitsminister ist klar: Wenn am Arbeitsmarkt die Frühjahrsbelebung, trotz Aufhebung der Corona-Maßnahmen, beinahe ausbleibt und im Juli auf dem Niveau des Winters liegt, wird diese Zahl vermutlich spätestens Ende Oktober die Drei-Millionen-Grenze durchbrechen. Das heißt, dass das eingeplante Budget für die Bundesagentur für Arbeit weiter aufgestockt werden muss. In der Folge wird auch die Zahl der Bürgergeldberechtigten steigen. Doch schon allein die Aussicht, dass Deutschland im kommenden Herbst mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr als drei Millionen Arbeitslose haben wird, könnte am Schluss einen Nachtragshaushalt im Herbst notwendig machen. Also doch mehr Schulden als geplant. Das wäre schlecht für Christian Lindner (FDP), der dann, zumindest in diesem Jahr, noch mal zum Schuldenbaron unter den bisherigen Bundesfinanzministern werden könnte.
Grund für diese besorgniserregende Zahl ist die abnehmende Industrieproduktion, so die drei Bundesverbände der großen Eckpfeiler der deutschen Wertschöpfung: Automobil- und Maschinenbau sowie Chemie. Sie fordern deutlich bessere Rahmenbedingungen im Wettbewerb, und vor allem einen Industrie-Strompreis. Die erste, die sich dieser Forderung in der Politik angenommen hat, ist die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD). Die 47-Jährige regiert ein Bundesland, das mit seiner Industrieproduktion und Stahlindustrie besonders energieintensiv ist. Darum forderte Rehlinger bereits im März einen Industriestrompreis von 4 bis 6 Cent pro Kilowattstunde, natürlich subventioniert durch den Bund. Inzwischen schlagen auch die CDU-Kollegen, vor allem auch die SPD-Ministerpräsidenten, Alarm.

Allen voran Rehlingers Amtskollege Stephan Weil aus Niedersachsen. Dort sitzt der weltweit größte Automobilkonzern VW, aber auch die chemische Industrie. Stromgroßverbraucher, die ihre Produktion schon runtergefahren haben. Produktionsstrecken wurden ins Ausland verlagert. Ähnlich auch in Rheinland-Pfalz. Chemie-Gigant BASF baut in Ludwigshafen in der Produktion 1.700 Arbeitsplätze ab und verlagert diese nach China. Begründung: Die Produktion rechnet sich wegen der hohen Energiepreise nicht mehr am alten Standort. Spätestens da begriff auch Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), dass offensichtlich etwas richtig schiefläuft.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hielt diese Entwicklung der letzten Monate für Säbelrasseln der Wirtschaft. Unterdessen ist auch er dahintergekommen, dass die großen Unternehmen ernst machen, aber eine Entscheidung zum Industriestrompreis steht weiterhin aus. Die Debatte in der Ampelregierung um die Einführung eines Industriestrompreises von 6 Cent pro Kilowattstunde wird in den kommenden Wochen schärfer werden. Die FDP hält die Debatte zu Industriestrompreis und anderen Subventionen als Ablenkung vom „eigentlichen Problem: der offenkundigen Standortschwäche Deutschlands“, so FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai.
Eine weitere Aufgabe für die Bundesregierung sind die weiter zunehmenden Flüchtlingszahlen. Seit Wochen fordert die Bundespolizei verschärfte Kontrollen an den deutschen Grenzen zu den anderen EU-Staaten und der Schweiz. Die Bundesländer sehen sich zunehmend an den Grenzen des Möglichen bei Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten. Die Kapazitäten in Stadt und Land sind weitgehend erschöpft, ganz abgesehen von der notwendigen Infrastruktur wie Kitas und Schulen oder Deutschkursen.
Doch hier mauert derzeit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Sie will bei den Inner-EU-Kontrollen nicht nachschärfen. Dabei warnt selbst der Bundesnachrichtendienst (BND) davor, dass Russland zunehmend Geflüchtete als Waffe zur Destabilisierung des inneren Friedens in Deutschland einsetzt. An dieser Stelle wäre der engste Vertraute von Olaf Scholz, Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt (SPD), gefragt. Er ist der oberste Koordinator der Geheimdienste, zuständig für Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Militärischen Abschirmdienst.
Regierung steht vor Herausforderungen
Schmidt taucht in der Öffentlichkeit nicht auf. Was für einen Kanzleramtsminister eher üblich ist, soll er doch die Regierungsgeschäfte im Hintergrund steuern. Doch wenn sich selbst zahlreiche Ministerpräsidenten beschweren, keinen Zugang zum wichtigsten Mann bei Fragen zu Migration und Geflüchteten zu haben, dann könnte es brenzlig werden. In eine ähnliche Beurteilungs-Falle ist vor acht Jahren sein Vorgänger Peter Altmaier (CDU) getappt. Auch Kanzleramtschef Altmaier hatte vom damaligen BND-Präsidenten Gerhard Schindler bereits im Februar 2015 entsprechende Informationen über gesteuerte Flüchtlingsströme erhalten. Die Folge war im August und September 2015 die sogenannte „Flüchtlingskrise“.
Eine weitere große Baustelle ist die Wohnungspolitik der Bundesregierung. Da sollten jedes Jahr 400.000 Wohnungen neu geschaffen werden. Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) ist derzeit froh, wenn in diesem Jahr überhaupt etwas mehr als die Hälfte dieses Ziels erreicht wird. Wobei es hier generell um den Bau von Wohnraum geht, abgesehen von chronisch fehlenden Sozialwohnungen.
Das sind nur einige der großen innenpolitischen Brocken. Von den außen-, sicherheits- und europapolitischen Entwicklungen ist da noch gar nicht die Rede.
Über, oder besser hinter allem steht der unbedingte Sparwille von Finanzminister Christian Lindner. Der hat zuletzt sogar den bislang eher still aber erfolgreich agierenden Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil arg in Bedrängnis gebracht mit seinen Ideen zu den Jobcentern. Eine Baustelle mehr, an der die Interessen von Ländern, Kommunen und dem Bund hart aufeinanderprallen.
Das alles lässt einen eher nervösen Auftakt in den Herbst erwarten. Dass die Ferien- und Urlaubszeit die angespannten Nerven beruhigt hätte, darauf gibt es wenig Hinweise. Auch nicht in der medialen Begleitung. Vor einem Jahr sagten ziemlich viele angesichts von Krieg, Energiekrise und Inflation einen heißen Herbst voraus. Der blieb erstaunlich ruhig. Die Zeichen in der wirtschaftlichen Entwicklung lassen auch jetzt so manchen wieder düstere Szenerien voraussagen. Die Stimmung bleibt jedenfalls weiterhin ziemlich angespannt.