Jede Menge Unsicherheiten, dazu ein Haushaltsloch: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die Debatte um die deutsche Schuldenbremse neu entfacht. Die Wissenschaft ist in der Frage der Sinnhaftigkeit jenes Gesetzes gespalten.
Schuldenbremse oder nicht? Über die Frage streiten Ökonomen seit Jahren. In der Zeitschrift „Wirtschaftspolitik“ diskutierten namhafte deutsche Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler 2019 das Für und Wider einer Schuldenbremse. Clemens Fuest, Leiter des Ifo-Institutes, sah vor allem vier Kritikpunkte: Erstens sei zu wenig Spielraum vorhanden für antizyklische Finanzpolitik. Zweitens sei die Finanzierung öffentlicher Investitionen mit Schulden anders zu beurteilen als die Finanzierung konsumtiver Ausgaben. Drittens würden ausgeglichene Haushalte dazu führen, dass die Staatsverschuldungsquote auf Dauer gegen null konvergiere. Viertens verhindere die Schuldenbremse nicht ein Ausweichen auf implizite Verschuldung durch Leistungsversprechen vor allem der umlagefinanzierten Sozialversicherungen. „Heute, zehn Jahre nach der Verabschiedung der Schuldenbremse, sieht ihre Bilanz nicht schlecht aus“, schrieb Fuest damals. Und auch heute geben Fuest und das Ifo der Schuldenbremse eine gute Note. Niklas Potrafke vom Ifo schrieb in einem Gastbeitrag im „Handelsblatt“ Anfang Januar, die Schuldenbremse sei gerade jetzt in diesen unsicheren Zeiten richtig und wichtig. Der Staat müsse genau hinsehen, wofür er Geld ausgeben könne. In der Vergangenheit sei es durch die äußeren Bedingungen – niedrige Zinsen, stabile Wirtschaft – nur einfacher gewesen, die Bremse einzuhalten.
Grüne und SPD wollen eine Reform
Entlang der Frage, ob die Schuldenbremse in der aktuellen Haushaltssituation des Bundes eingehalten werden müsse, schwelt der Disput weiter. Nach einer Umfrage von Fuests Ifo-Institut sind 48 Prozent der befragten Ökonomen dafür, Ausgaben zu kürzen. 38 Prozent sehen in einem Anstieg der Neuverschuldung den Weg aus der Krise. Die Schuldenbremse an sich sehen sechs Prozent der Befragten als Hindernis und wollen sie abschaffen. 48 Prozent wollen sie in ihrer jetzigen Form beibehalten. 44 Prozent wollen sie erhalten, aber reformieren. Die meiste Unterstützung gibt es hierbei dafür, Investitionen von der Schuldenbremse auszunehmen. Zudem wollen 36 Prozent die Konjunkturkomponente großzügiger ausgestalten. In einer Krise wäre dann eine höhere Verschuldung zulässig, die aber im Aufschwung ausgeglichen werden muss. Von den Unterstützerinnen und Unterstützern einer Reform der Schuldenbremse befürworten 30 Prozent den Vorschlag, bestimmte Ausgabenkategorien wie Klima und Verteidigung von der Schuldenbremse auszunehmen.
Die Grünen wären offen für eine modernisierte Schuldenbremse. Für eine grundsätzliche Reform, wie sie auch SPD-Politiker fordern, wäre eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat nötig. Um diese zu erreichen, müsste auch die Opposition mitmachen. CDU-Chef Friedrich Merz lehnte jedoch eine entsprechende Grundgesetzänderung ab. Auch FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner will die entsprechenden Änderungen in größerem Umfang nicht angehen.
Wichtige wirtschaftspolitische Berater der Bundesregierung plädieren dagegen für eine umfassende Lockerung. Die aktuelle Regelung sei unnötig streng, sagte beispielweise die Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Monika Schnitzer. Wenn man die Schuldenbremse so lasse, werde die Schuldenquote in den nächsten Jahrzehnten viel stärker sinken als nötig. Das Beratergremium regt deshalb eine Reform an: „Wir wollen die Flexibilität erhöhen und Spielräume schaffen, sodass man zukunftsorientierte öffentliche Ausgaben tätigen kann, ohne dabei die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen auszuhöhlen“, sagte Schnitzer. Sie sieht zwei Ansatzpunkte: die Einführung einer Übergangsregelung für die Zeit nach einer Notlage und eine höhere Verschuldungsgrenze in Abhängigkeit von der Schuldenstandsquote. Die Bundesregierung könnte so – eine Schuldenquote unter dem europäischen Maastricht-Kriterium von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung vorausgesetzt – im Jahr rund 36 Milliarden Euro mehr Kreditspielraum bekommen. Bei einer schlechteren Schuldenquote wären es immerhin noch 18 Milliarden.
Auch die deutsche Ökonomin Isabella Weber, die sich als Beraterin der Bundesregierung zur Gaspreisbremse einen Namen machte und mittlerweile internationales Renommee genießt, plädiert für höhere Staatsausgaben in der jetzigen Situation. Amerikanische Ökonomen wie der ehemalige Wirtschaftsberater von US-Präsident Joe Biden Brian Deese fordern, Deutschland müsse mehr Geld ausgeben, um den europäischen Wirtschaftsmotor weiter voranzutreiben. Aber das muss offenbar nicht immer Deutschland sein. Laut dem Wirtschaftsdienst Bloomberg schwächele Deutschland zwar, doch die Wirtschaftskraft von Spanien und Italien habe der Wirtschaft der EU im vergangenen Jahr einen Auftrieb gegeben.
„Notsituation“ für Ukraine-Hilfen
Das Land habe in den vergangenen Jahren eine Strukturreform verschlafen, schreibt Niklas Potrafke vom Ifo-Institut. Dennoch müsse es gelingen, ohne ein Lockern der Schuldenbremse, eben mit den vorhandenen Mitteln, die Herausforderungen zu stemmen. Diese jedoch sind nicht wenig, hinzukommen die aktuellen globalen Unsicherheiten. Unlängst hat daher ein Bündnis aus der deutschen Wirtschaft mehr Sicherheit bei der Transformation der deutschen Wirtschaft angemahnt.
Ob die Schuldenbremse nun hält, lässt sich derzeit noch nicht ganz sicher sagen. Vorgesehen sind nun zunächst neue Kredite in Höhe von rund 39 Milliarden Euro. Damit würde die Schuldenbremse nach jahrelangen Ausnahmen wieder voll greifen. Die Bundesregierung hatte zunächst geprüft, ob für 2,7 Milliarden Euro an Fluthilfen nach der Hochwasser-Katastrophe im Ahrtal erneut die Ausnahmeregel gezogen werden sollte. Das Geld kommt nun aber aus Überschüssen des Etats 2023. Ein großer Unsicherheitsfaktor bleibt aber der Ukraine-Krieg. Was passiert, wenn Deutschland seine Hilfe für die Ukraine nochmals stark erhöhen muss, weil die Entwicklung an der Front oder der Rückzug anderer Staaten aus der Unterstützerallianz dies erfordern? Die Ampel-Koalition behält sich vor, dann doch eine „außergewöhnliche Notsituation“ geltend zu machen und die Schuldenbremse auszusetzen. Mal wieder.