Man muss nicht unbedingt unter Flugangst leiden, um lange Bahnfahrten zu schätzen. In „Nachtzugtage“ bekennt sich Millay Hyatt zu ihrer Vorliebe für Fahrten in Nachtzügen. Quer durch Europa mit der Bahn, das ist schon etwas für eingefleischte Fans. Um aber bis nach Tiflis mit dem Zug zu fahren, braucht es schon noch weitere Eigenschaften: Abenteuerlust, Geduld, Neugier auf nicht ausgetretene Pfade und enorme Frustrationstoleranz.
Das alles bringt die Autorin mit und lässt uns teilhaben an den beglückenden Erlebnissen auf Schienen, den unmöglichsten Bekanntschaften, die man während der stundenlangen Fahrt schließt, am bereichernden Kennenlernen fremder Kulturen an der Basis.
Das mitunter tagelange Rumpeln, Gleiten und Schlingern kann auch etwas Kontemplatives vermitteln, zu Erkenntnissen führen und fordert zu einem Sich-Einlassen auf die unmittelbare Umgebung im Zug heraus, auf die Eigenheiten der Mitreisenden sowie auf die jeweilige Unternehmenskultur der einzelnen Bahnverwaltungen.
Die in Berlin beheimatete Deutsch-Amerikanerin Hyatt spricht wortgewandt vieles an, was anderen Vielfahrern leidvoll vertraut ist. Sie beschäftigt sich geradezu philosophisch mit dem Blick aus dem Zugfenster, nennt es das „zugfensterspezifische Schauen“. Was macht die Bewegung des Zuges mit uns? Kehren wir stets als andere von einer Reise zurück? Sie stellt die unterschiedlichen Charaktere an Nachtzugbegleitern vor und das Zugreisen mit Kindern. Alles schildert sie humorvoll und pointiert.
Es gibt doch schon so viel Literatur von bahnaffinen Autoren über das Zugfahren, könnte man meinen. Das stellt Millay Hyatt gar nicht in Abrede, im Gegenteil: Ihre einschlägigen Literaturhinweise am Ende sind seitenlang. Und doch ist ihr etwas Eigenständiges gelungen, eine Mischung aus erlebten Episoden beim Zugreisen und reflektierender Betrachtung dieser Beschäftigung.