Das belgische Dorf Redu drohte auszusterben. Die Rettung kam mit einer Initiative, durch die sich Antiquariate ansiedelten. Heute dreht sich alles ums gedruckte Wort.
Im 400-Einwohner-Dorf Redu in Belgien sind die Häuser so alt, dass ihre Wände aus unterschiedlichsten Stein-Typen bestehen. Mal sind es Ziegelsteine, mal Backsteine – und manchmal regelrechte Klötze, die vermutlich vom nächstgelegenen Feld stammen. An den Straßenlaternen hängen bunte Blumen. Ringsherum Wälder und Wiesen, inklusive Kuhglockengebimmel. Ein kultureller Hotspot sieht anders aus, könnte man meinen. Und doch liegt er genau hier, in den Ardennen, mitten im Nirgendwo zwischen Heuballen und Landstraße.
Zwischen Luxemburg und Brüssel
Verborgen unter Sonnenschirmen, tauchen sie sommers auf: die Bücher! Nicht einfach ein paar, sondern Zehntausende. Sie stapeln sich in Regalen und auf Tischen vor den alten Häusern. Von Comics über Science-Fiction bis zu Thrillern und Schnulzen ist alles dabei. Zehn Antiquariate gibt es in Redu, was Besucherinnen und Besuchern selbst bei geschlossenen Augen nicht entgeht. Immer mal wieder weht er nämlich durch die Straßen, dieser unverkennbare bibliophile Duft: eine Mischung von Muff und altem Papier.
Im Buchladen „De Eglantier & Crazy Castle“ steht Miep van Duin hinter der Kasse. Der freundlichen Dame sieht man ihre 79 Jahre nicht an; ihre wachsamen Augen haben schon viele Bestseller verschlungen. „Geschichtliche Themen interessieren mich am meisten“, sagt van Duin, „aber bei uns findet man auch alles andere.“ Ihr Alleinstellungsmerkmal: Neben Büchern auf Französisch – der Amtssprache in Wallonien – hat sie niederländische und englische Werke im Angebot. „Das läuft richtig gut“, sagt van Duin. „Wir liegen hier genau zwischen Luxemburg und Brüssel. Da gibt es viele englischsprachige Leute, die etwas zum Lesen suchen.“
Zusammen mit ihrem Mann Jan Verhagen (82) ist Miep van Duin vor 32 Jahren aus den Niederlanden nach Redu gezogen. „Am Anfang kam ich als Touristin“, sagt sie. „Später bin ich dann geblieben.“ Rund 15.000 Bücher stapeln sich in ihren Regalen. Manche kosten fünf Euro, andere fünftausend – je nach Zustand und historischem Wert. Für Touristen, die draußen stöbern, hat das Ehepaar eine „Ehrlichkeitskasse“ aufgestellt: eine alte Waschmittelflasche, in die man das Geld hineinwerfen kann.
„Hauptberuflich könnten wir nicht davon leben“, räumt Jan Verhagen ein. „Aber wir sind inzwischen im Rentenalter und machen diesen Job einfach gerne.“ Über mangelnde Kundschaft können sie sich nach eigenen Angaben nicht beschweren: „Natürlich lässt sich heute fast alles im Internet bestellen. Aber es macht einen großen Unterschied, ob man ein Buch nur am Bildschirm sieht oder ob man es in der Hand hält, ob man es ansehen und darin blättern kann.“
Das Konzept scheint aufzugehen. Um die Antiquariate herum haben sich eine Handvoll hochwertiger Restaurants angesiedelt – ungewöhnlich für ein so kleines Dorf. Der große Ansturm kommt meistens im Sommer bei der langen Nacht der Bücher und zu Ostern, wenn die jährliche „Fête du Livre“ stattfindet. Dann haben die Antiquariate bis spät abends geöffnet. Sogar in der Pandemie strömten mehrere Hundert Gäste aus der Region herbei. Der Andrang ist so groß, dass die Zufahrtsstraße abgesperrt wird, damit kein Verkehrschaos droht.
Redu hat seine eigene Monopoly-Edition
Entstanden ist die Bücherdorf-Idee vor 40 Jahren. Redu drohte, wie so vielen Dörfern, ein langsames Aussterben. Um gegenzusteuern, gründete sich ein Verein, der einen großen Bücherflohmarkt organisierte. So verwandelten sich die alten Scheunen und Molkereien in temporäre Buchhandlungen. „Es hat funktioniert“, sagt Manu Hougardy, der Vorsitzende des Einzelhandelsverbands. „Nach und nach haben sich immer mehr Antiquariate bei uns angesiedelt.“ Heute ist das Dorf fast schon eine Marke, die es sorgsam pflegt. Seit diesem Jahr gibt es eine eigene Monopoly-Edition, die in den Restaurants und Buchläden verkauft wird. „Dafür hat die Gemeinde sogar einen Kredit aufgenommen“, sagt Hougardy. Ob das Geld wieder reinkommt? Ungewiss. Immerhin kostet ein Spiel 60 Euro.
Trotz der allgemeinen Lese-Laune läuft auch in Redu nicht alles wie geplant. Die Bäckerei hat dieses Jahr geschlossen, weil die betagte Inhaberin krank wurde. Die Zahl der Buchhandlungen sinkt langsam, aber stetig – zu Hochzeiten waren es über 20. „Für ein Dorf mit 400 Einwohnern sind wir aber immer noch ziemlich gut“, beteuert Hougardy. Er verweist auf das Museum „Mudia“, das 2018 eröffnet hat und eine private Sammlung von über 300 Werken enthält. Oder auf die neue „Space Art Gallery“. Sie knüpft inhaltlich an den Themenpark „Euro Space Center“ an, der nur wenige Kilometer vom Dorf entfernt liegt. „Es sterben eben nicht nur Geschäfte weg“, sagt Hougardy, „sondern es kommen auch neue hinzu.“
Dazu gehört der Smoothie-Laden „Cléo Ju“. Vorm Tresen stapeln sich Bananen, Zitronen, Ingwer- und Ananas-Stücke, die auf Bestellung zusammengemixt werden. Im Nebenraum liegen Kinder- und Naturbücher. „Eine gute Kombination“, findet Pascale Balhaut (50), die mit Küchenschürze zwischen Früchten und Büchern umherläuft. Für das Café ist sie extra in das kleine Dorf gezogen. Bereut hat sie es nach eigenen Angaben nicht. „Warum auch?! Wir haben hier sogar unsere eigene Saftmarke gegründet.“
Vor dem Geschäft hat es sich Lotte Wietendaele in einem Liegestuhl bequem gemacht. Die 28-jährige Grafikdesignerin ist mit ihrer Mutter nach Redu gefahren – zweieinhalb Stunden, extra aus Flandern. „Ich bin auf der Suche nach den Comics meiner Kindheit“, sagt Wietendaele. Die Yakari-Reihe hat es ihr angetan. Sie handelt von einem indigenen Jungen, der mit Tieren sprechen kann. „Davon habe ich schon über 30 Bände“, sagt sie. „Oder sind es 50? Auf jeden Fall hätte ich gerne noch ein paar mehr.“ Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sie in Redu fündig wird.