Stefan Raab mag aus der Zeit gefallen sein, den Riecher für gute Musik hat er aber nicht verloren. Glaubt man Fans des Eurovision Song Contest, hat der Entertainer das Teilnehmer-Duo für Deutschland, Abor & Tynna, im Alleingang durchgeboxt. Schon im Vorfeld der Vorentscheid-Sendung „Chefsache ESC“ habe Raab die Spielregeln geändert, damit die Fan-Favoriten Feuerschwanz keine Chance hätten. Nun – die Entscheidung ist gefallen, Raab übernimmt Verantwortung und „Bittersüß“, das Debüt des Geschwisterpaars aus Österreich, liegt vor.
Die Besetzung Bruder und Schwester erinnert an Billie Eilish und Finneas O’Connell, auch wenn die Amerikaner deutlich in einer anderen Liga spielen. Der mit elektrischen Spielereien durchzogene Sound von Abor & Tynna – gebürtig Attila und Tünde Bornemisza – weiß dennoch zu gefallen. Nicht umsonst fanden sie mit ihrem modernen, nach vorne preschenden Pop den Weg ins Vorprogramm der 2024er-Tour von Nina Chuba. Als würden sie die Nächte des kommenden halben Jahres am Stück durchmachen wollen, legen in ihren 16 Songs keinen langsamen Gang ein.
Die kanalisierte Wut nach dem Ende einer Beziehung findet martialische Worte wie „Würdest du für mich immer noch ’ne Kugel fang’n? / Weil deine Waffe ist jetzt in meiner Hand“. Dass eine Liebe nicht sein sollte, fangen die beiden in Wien geborenen und klassisch ausgebildeten Musiker im Opener „Parallele Linien“ auf, der mit sanfter E-Gitarre beginnt. „Manchmal könn’n wir uns seh’n, doch die Distanz bleibt besteh’n“, singt Tynna so fragil wie trotzig. Der Jungle-Rhythmus erinnert in „Engel in Jeans“ an Disco in den Neunzigern.
Dem Image aus energetischer stetiger Feierlaune frönen Abor & Tynna auch in ihren Hochglanz-Videos, die die Grenze zwischen dem Spiel mit Statussymbolen und Lost-Place-Romantik bedienen. Hoffentlich platzt ihr Auftritt beim ESC im Mai nicht wie „Seifenblasen“, die sie in ihrem gleichnamigen Lied besingen. Erste Berichte über Wettquoten lassen Schlimmes befürchten, doch die Wettbüros dürften auch auf die wenig glanzvollen vergangenen Jahre geschielt haben. Da lag Deutschland meist ziemlich weit hinten.