Schon der erste Track „Song Of The Lake“ schubst uns unvermittelt in den Nick-Cave-Kosmos hinein. Es braucht also auch auf „Wild God“ kein vorsichtiges Herantasten, kein Anklopfen, keine thematische Einführung. Es ist sogleich alles da, was das Fan-Herz begehrt: das Drama und die intensive Präsenz, die Opulenz eines Orchesters, Piano-Akkorde in Moll, die hochpoetische Beschreibung eines erinnerungswürdigen, tiefsinnigen Augenblicks: die badende Frau, das Licht, die Sonne, die Pferde des Königs, die Sorge vor der Macht der Hölle.
Am Ende aber steht der Trost: „Oh my sweet Darling, never mind.“ Im anschließenden Titelstück wird der wilde Gott gnädig gestimmt: Sterben, Schreien, Singen als Dreiklang des Lebens.
Ja, unter blankem Existentialismus wird auch auf diesem neuen Meisterwerk nichts verhandelt. So textet nur dieser Pop-Gott … Und wie er fleht, barmt, flüstert, betet, flucht, sein Innerstes nach außen kehrt! Unüberhörbar aber ist „Wild God“ – nach dem Trauer-Album „Ghosteen“ (2019) – ein Lebenszeichen, welches keinen verzagten, sondern einen freudvollen, gleichwohl hart erkämpften Blick in die Zukunft wagt.
So gesehen kann „Joy“ als emotionaler Schlüsseltrack identifiziert werden. „We’ve all had too much sorrow, now is the time for joy.“ (Wir hatten alle zu viel Kummer, jetzt ist die Zeit für Freude) heißt es darin – indes erst nachdem Cave drei ewige Minuten lang noch einmal alle Gespenster in Erinnerung gerufen hat … Und natürlich intoniert Nick Cave auch die frohgesonnensten Zeilen mit charismatischster Grabesstimme.
Etwas anderes hat er nicht im Repertoire. Gleichwohl sollten wir gebannte Hörer seinen allerletzten Rettungsversuch („Finale Rescue Attempt“) nicht ausschlagen.
Klar, dass Streicher-Meere, ein Gospel-Chor, Geklimper und Geratsche an jeder Ecke weit mehr benötigten als die kongenialen Beiträge der Bad Seeds. Bemerkenswert ist das raffinierter denn je zwischen Harmonie und Dissonanz changierende Klangbild (Produzent Dave Fridman!) dieses magischen Reigens. Hier gilt: Genie statt Perfektion. Und eines von Caves besten Alben.