Jan-Lennard Struff ist der erste Lucky Loser der Tennisgeschichte, der das Finale eines 1.000er-Masters-Turniers erreicht hat. Und zwar in Madrid. Die bisherige Bilanz des Warsteiners für Paris: zweimal Achtelfinale. Allez, allez zum Grand-Slam-Aufsteiger?
Vom 28. Mai bis zum 11. Juni wird der neue French-Open-Champion gesucht. Im Reich von Sandplatzkönig und Vorjahressieger Rafael Nadal. 14-mal gewann der Spanier das einzige der vier Grand Slams auf Sand. Doch der 36-Jährige verletzte sich bei den Australian Open an der Hüfte. Seither sagte der Mallorquiner ein Turnier nach dem anderen ab. So wie jüngst zum wichtigen Masters in Rom, der „Generalprobe“ für die French Open.
„Brutal“ und „sehr hart für den Tennissport“, nannte Roger Federer am Rande der Formel 1 in Miami die Vorstellung, „wenn Rafa nicht dort wäre“. Nun ist diese Vorstellung Realität. Dort, das ist am Bois de Boulogne, wo Nadal als stählerne, hohe Statue das ganze Jahr über im Stade Roland Garros alle überstrahlt.
Ihm mangele es an „Matchpraxis“ zwitscherte der Sandplatz-Star als Grund für seine Absage für Rom auf der Social-Media-Plattform, seinem bevorzugten Kommunikationsinstrument gegenüber seinen Fans. Nach dem Abschied von Tennisprofi Federer müssen sich die „Fedal“-Anhänger allmählich darauf einstellen, sich von Spieler Nadal zu trennen.
Nadal-Abschied in Aussicht?
Novak Djokovic nannte die French Open als sein „ultimatives Ziel auf Sand“: Der Serbe verlor gerade Rang eins der ATP-Tour-Wertung an den 20-jährigen Carlos Alcaraz. Dem quirligen Spanier gelingt fast alles, dem 22-fachen Grand-Slam-Sieger in dieser Saison kaum etwas – time to say goodbye auch für den 35-Jährigen „Nole“, mit oder ohne Rekordtitel?
Ein Trost ist, dass die einstigen Publikumslieblinge auch jenseits der Courts präsent bleiben: Roger Federer hatte jüngst bei der Met-Gala in New York die Haare schön, und Serena Williams, mit der er dort plauderte, erwartet wohl ihr zweites Kind. „Ich war so aufgeregt, als Anna Wintour uns drei zur Met-Gala eingeladen hat“, postete die 23-fache Grand-Slam-Siegerin auf Instagram zu Bildern ihres leicht gewölbten Outfits.
Angelique Kerber schwelgt gerade in Auszeit und im Babyglück. Die deutsche Gewinnerin von drei Grand Slams wird in den Matches von Paris fehlen. Der doppelte French-Open-Sieger im Doppel, Kevin Krawietz, ist neuerdings mit seinem kleinen Sohn im Gepäck auf der Tour unterwegs: Die Frühlingsgefühle der genannten (Ex-) Profis haben vor dem Grand Slam „Roland Garros“ in Paris nur wenig mit der roten Asche und den gelben Bällen zu tun.
Doch, Stopp: Kevin hat seit Jahresbeginn in Tim Pütz einen neuen Partner auf der Tour. Die beiden erreichten das Halbfinale in Monte Carlo sowie das Finale bei den BMW Open in München: Das „KraPütz“-Doppel nähert sich seinem ersten gemeinsamen Sieg.
Der langsame, rote Ziegelsand im Stade Roland Garros kündet von der Liebe zum zweiten Tennis-Grand-Slam des Jahres. Unerbittlich klebt er an Schuhen und Kleidung. Bei jedem: Federer hasste den Dreck. Und doch zieht die Asche Menschen in ihren Bann, weil sie geduldige Spielkunst verlangt. Auch von Profis wie „Struffi“, der seit 14 Jahren auf der Tour unterwegs ist. Der in München 2021 und Madrid 2023 im Finale stand, aber noch kein ATP-Einzelturnier gewann.
Ein „verrücktes Abenteuer“
Es ist an der Zeit: Mit 33 Jahren demonstriert der Warsteiner, wie mächtig seine Schläge sind. Dass er, der scheinbar so Zurückhaltende, offensiv auf Sieg spielt. Mehr als 50-mal griff Jan-Lennard Struff den sonst kaum bezwingbaren Carlos Alcaraz am 7. Mai in der Caja Magica vorne am Netz an, beraubte ihn der Gegenwehr. Der sonst so ruhige Riese attackierte den neuen Weltranglistenersten unablässig. Der Warsteiner zeigte die Faust, brodelte beim Aufschlag wie ein Lava spuckender Vulkan vor Energie. Jan ist nun einer von sieben deutschen Spielern in der Tennishistorie, die ein Finale der 1000er-Masters erreichten. Ein „unglaubliches“ und „verrücktes Abenteuer“ nannte der zuverlässige, deutsche Nationalspieler seinen Auftritt auf spanischem Sand.
Ob das dem zweifachen Vater auch auf den beschwerlichen Plätzen von Paris gelingt? Seit Madrid ist Struff unter den Top 30 der Welt, sein eigener Rekord. Zuletzt löste der große Mann sogar Alexander Zverev als deutsche Nummer eins ab. „Ich habe mir vorher so was nicht vorgestellt“, hatte Struff nach einem seiner gewonnenen Matches in spanischen Höhengefilden verraten.
Nach einem Jahr voller Verletzungen arbeitete sich der 33-Jährige seit Januar von Platz 167 und über kleine Turniere mühsam hoch. Vielleicht kommt da noch mehr, nachdem der ewig Genügsame seine Talente nicht mehr bescheidet. „Ich spüre Rückenwind“, sagte der stolze Vize-Gewinner von Madrid: „Ich will so entschlossen weitermachen jetzt.“ Die neun Masters auf der ATP-Tour stehen direkt unter den vier Grand Slams: Jan macht, und die Macht ist mit ihm beim Kampf um die Sterne.
Mit Sicherheit hat „Struffi“ als diesmal gesetzter Spieler unter den deutschen Teilnehmern die derzeit besten Chancen, das Finale bei den French Open zu erreichen. Die Nähe zum Eiffelturm symbolisiert, welche Wunderwerke aus Technik und Willen entstehen. Als „glücklicher Verlierer“, als Nachrücker nach verlorener Qualifikations-Endrunde wie in Madrid, ins Finale der Hauptrunde zu kommen, ist ein Hammer. Selbiges bei einem Grand Slam, wo fünf Sätze keine Seltenheit sind, wäre Horror.
Es ist Frühling in Frankreich: Neuerungen, wie das Coachen während des Matches, werden auch in Paris eingeführt. Immerhin ein Satz als Ansage des Trainers an seinen Schützling aus der Box heraus ist neuerdings erlaubt, wenn der Spieler gerade auf dieser Court-Seite unterwegs ist. Ein Vorteil vor allem für jene, die nachkommen im Tour-Geschäft. An der Spitze beißen sich neuerdings Junge wie Alcaraz, Jannik Sinner und rasant auch Holger Rune fest, der zum zweiten Mal in Folge die BMW Open gewann.
Fokus auf Struff senkt den Druck
Ein Vorteil ist das Reinbrüllen sicherlich für Jan-Lennard Struff, den sein neuer Trainer Marvin Netuschil ungehemmt von der Seite antreibt: Verpatztes abhaken, mit positiver Energie den Gegner bedrängen. So könnte das gehen, mit dem Finale in Frankreich. Die Eurosport-Zuschauer dürfen mitfiebern. Auch mit Daniel Altmaier, dem French-Open-Achtelfinalisten von 2020, sowie mit US-Open-Achtelfinalist Oscar Otte, Zverev, Jule Niemeier, Tatjana Maria und Annalena Friedsam, die in dieser Saison alle keinen Zweifel an ihrem Willen lassen.
Grand Slams können die aktuell aktiven Damen: Jule und Tatjana spielten im deutsch-deutschen Duell in Wimbledon vergangenes Jahr im Viertelfinale gegeneinander. Die 35-jährige Maria stand 2016 bereits im Achtelfinale der French Open. Gegen Iga Swiatek zu bestehen, die 2020 und 2022 in Paris siegte, dürfte ihnen nicht gelingen. Es sei denn, das Pech ist mit der Polin und eine lockere Hand mit den deutschen Damen.
Der Fokus auf „Struffi“ nimmt auf jeden Fall Druck von ihren Matches. Sogar bei Alexander Zverev. Zweimal stand der 26-Jährige, der schon die Nummer zwei der Welt war, im Halbfinale von Roland Garros. Vielleicht die größten drei Stunden Spielzeit seiner bisherigen Tenniskarriere zauberte der Olympiasieger im Duell mit dem Sandplatz-König auf den Platz. Doch dann das Drama: Zverev knickte um, verletzte sich schwer: Beim Stand von 6:7, 6:6, als der Hamburger das Match mit drei Gewinnsätzen zu seinen Gunsten hätte drehen und Tennisgeschichte schreiben können. Es kam anders. Ganz anders. Zverev rutschte, obwohl mittlerweile genesen, auf Tour-Platz 22 zurück. Von den Spielern, die sich vor ihm positionieren, sind 14 jünger als der zweifache ATP-Weltmeister.
Parallelen zu Zverevs Freund Dominic Thiem zeigen sich, der 2020 mit seinem US-Open-Sieg gegen „Sascha“ sein bestes Jahr hatte. Seit Juni 2021 war der 29-Jährige verletzt, kam physisch und mental lange nicht mehr auf die Beine oder vielmehr zu einem beschwerdelosen Handgelenk. Die French Open, wo der Österreicher je zweimal Finalist und Halbfinalist war, könnten dem Sandplatz-Spezialisten weiteren Auftrieb geben. Sofern er dabei ist: Als ehemaliger Finalist hat die frühere Nummer drei der Welt gute Karten für eine Wildcard. Sechs Wochen vor dem Start der French Open rangierte Thiem noch knapp jenseits der Top 104. Das änderte sich. Doch zu spät für einen sicheren Startplatz.
„Struffi“ hingegen zog rechtzeitig in die Top 100 der Tour zurück. Spekulieren wollte er nicht vorschnell über seine Chancen auf dem Sandplatz des Königs. Aber er zog dort schon zweimal ins Halbfinale ein. Zuletzt 2021 mit einem Sieg über Alcaraz, quasi den Nadal-Erben. Sollte der Davis-Cup-Spieler heuer in Paris wieder den Kronprinzen aus Spanien schlagen, sähe es gar nicht mal so schlecht aus für den Warsteiner, nach seinem starken Anlauf in Madrid den größten Coup seiner Karriere auf der Tour zu landen. Träumen darf ein Spieler, der sich seiner Macht auf dem Platz bewusst geworden ist und sie genussvoll ausspielt, allemal.