Mehr als 60.000 Frauen erkranken im Durchschnitt jedes Jahr an Schwangerschaftsdiabetes. Vorstandsvorsitzender Professor Dr. Jörg Loth spricht über die aktuelle Situation und mögliche Lösungen.
Herr Prof. Dr. Loth, wie sieht der aktuelle Ist-Zustand aus?
Die Auswertung unter unseren Versicherten in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland zeigt, dass seit 2016 jedes Jahr mehr Frauen an Schwangerschaftsdiabetes, dem sogenannten Gestationsdiabetes, erkranken. Im Jahr 2022 ha-ben sogar ein Viertel aller Schwangeren, die bei der IKK Südwest versichert sind, diese Diagnose erhalten. Das ist in meinen Augen eine sehr ernst zu nehmende Entwicklung, der wir nachgehen müssen. Denn ein Schwangerschaftsdiabetes kann sich schon vor der Geburt negativ auf die Gesundheit sowohl der Mutter als auch ihres Kindes auswirken. Ein nicht erkannter Schwangerschaftsdiabetes kann zu einer starken Gewichtszunahme des Kindes im Mutterleib führen, wodurch sich auch das Risiko von Komplikationen bei der Geburt erhöht. Neugeborene von diabetischen Müttern können in den ersten Tagen an Blutzuckerschwankungen sowie Unreife leiden, was eine intensive medizinische Überwachung erforderlich macht. Zudem haben Kinder von diabetischen Müttern selbst ein erhöhtes Risiko einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln. Damit gehört dieses Krankheitsbild zu den sogenannten Zivilisationskrankheiten. Genau diese stellen in unserer Gesellschaft nach wie vor eine der Haupttodesursachen dar. Die Zahl der Erkrankten mit Adipositas, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes mellitus Typ 2 steigt seit Jahren in Deutschland deutlich an – und dies mit zum Teil gravierenden Folgen für die Betroffenen und letztlich auch für das Gesundheitssystem. Allein über 1.600 Diabetes-Neuerkrankungen täglich sprechen dabei eine sehr deutliche Sprache.
Welche Faktoren tragen zu dem rasanten Anstieg von Schwangerschaftsdiabetes bei?
Schwangerschaftsdiabetes ist eine Unterform des Diabetes mellitus Typ 2, die genau wie dieser häufig durch den Lebensstil bestimmt wird. Wer also bereits vor der Schwangerschaft stark oder krankhaft übergewichtig ist, hat ein erhöhtes Risiko. Durch einen gesunden Lebensstil und die individuelle Gesundheitsprävention können solche Erkrankungen jedoch gut vermieden werden. Daher ist es empfehlenswert, dass sich Frauen schon bei der Planung ihrer Schwangerschaft mit dem Thema Diabetes beschäftigen, um das eigene Risiko besser abzuschätzen und um bereits im Voraus vorbeugende Maßnahmen ergreifen zu können. Man sollte sich zum Beispiel folgende Fragen stellen: Gibt es Fälle von Diabetes in meinem familiären Umfeld? Könnte ich daher genetisch vorbelastet sein? Besteht bei mir eine Adipositas?
Auch ein wichtiger Punkt: Frauen, die schwanger werden, sind im Durchschnitt immer älter. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, eine Zuckererkrankung zu entwickeln.
Welche Strategien und Maßnahmen können ergriffen werden, um dieser Tendenz entgegenzuwirken?
Risikofaktoren müssen frühzeitig erkannt und minimiert werden. So können eine ausgewogene Ernährung und ausreichende Bewegung der Entstehung oft entscheidend vorbeugen. Es ist daher ratsam, dass sich Frauen mit Kinderwunsch bereits frühzeitig körperlich auf die Schwanger-schaft vorbereiten und ihre Lebensweise sowie die Ernährung anpassen.
Mithilfe eines Glucosetests lässt sich die Erkrankung bereits ab der 24. Woche diagnostizieren
Ein weiterer Punkt sind die Vorsorgeuntersuchungen: Wer sie gewissenhaft wahrnimmt, kann oft schon bei ersten Auffälligkeiten gemeinsam mit dem Arzt dem Schwangerschaftsdiabetes entgegenwirken. Denn je früher er erkannt wird, desto geringer sind die gesundheitlichen Risiken für Mutter und Kind. Das Tückische am Schwangerschaftsdiabetes ist jedoch, dass er oft ohne Symptome verläuft. Daher unterschätzen viele werdende Mütter die Gefahr.
Um einen Schwangerschaftsdiabetes frühzeitig zu diagnostizieren, ist die sicherste Methode der Glucosetest, der beim Frauenarzt routinemäßig in der 24. bis 26. Schwangerschaftswoche durchgeführt wird. Die Kosten dafür übernimmt die IKK Südwest. Wenn bei diesem Test der Blutzucker bestimmte Werte übersteigt, liegt ein Schwangerschaftsdiabetes vor. Schwangere sollten diese Angebote zum eigenen und zum Wohle ihres Kindes nutzen. Die Präventionsleistungen haben nämlich einen doppelten präventiven Charakter. Durch sie wird sowohl die werdende Mutter als auch das ungeborene Kind vor schweren gesundheitlichen Folgen geschützt. Je früher eine Krankheit erkannt wird, desto besser lässt sie sich medizinisch behandeln.
Wie prognostizieren Sie die Entwicklung der Fallzahlen von Schwangerschaftsdiabetes in der Zukunft?
Unsere Datenauswertung zeigt, dass der Anteil der Frauen, die einen Schwangerschaftsdiabetes entwickelt haben, von 2016 bis 2022 von 17 Prozent auf 25 Prozent gestiegen ist. Ein solch rasanter Anstieg in so einem kurzen Zeitraum ist schon besorgniserregend. Jeder kann sich ausmalen, wo diese Entwicklung, wenn wir sie nicht abbremsen, hinführt. Es ist daher enorm wichtig, dass Frauen mit Kinderwunsch frühzeitig für das Thema sensibilisiert werden. Gerade weil das Wissen vorhanden ist, wie ein Gestationsdiabetes verhindert werden kann und wir gleichzeitig über die medizinischen Mittel verfügen, um diesen zu diagnostizieren, ist dessen Anstieg umso bedenklicher. Hier müssen wir dringend gegensteuern. Zivilisationserkrankungen sind beeinflussbar und können durch unser Handeln und Zutun reduziert oder gar vermieden werden. Der Prävention, also der Vorbeugung von Krankheit, kommt daher eine zentrale Rolle zu. Heute werden aber immer noch zu wenige Gesundheitsausgaben für die Prävention aufgewendet. Da muss ein Umdenken stattfinden. Bund und Länder müssen also noch bessere Rahmenbedingungen schaffen, um Gesundheit und Prävention mit einem gesunden Lebensstil als gut realisierbare Lebensaufgabe zu gestalten.