Im Supermarkt begegnet uns der Nutri-Score. Wie ernst müssen wir ihn nehmen?
Ich schlendere mit einem Freund durch den Supermarkt. Auf fast jeder Packung leuchten mir die ersten fünf Buchstaben des Alphabets entgegen: ein dunkelgrünes A, ein hellgrünes B, ein gelbes C, ein hellrotes D und ein dunkelrotes E. Ich frage Sebastian, was es mit diesen Buchstaben denn nun genau auf sich hat. Prompt erklärt er: „Der Nutri-Score gibt Auskunft zur Nährwertqualität eines Produkts. Negativ wirken sich etwa Zucker, Salz und ungesättigte Fettsäuren aus, positiv Proteine und Ballaststoffe.“ Ich habe Sebastian – bei allem Respekt – bislang nie als Lexikon auf zwei Beinen wahrgenommen, aber scheinbar hat er sich mit diesem Thema genüsslich genau auseinandergesetzt.
Wir laufen an der Salami vorbei: E, dann an der Nougatschokolade: E, schließlich an der Cola – natürlich auch E, aber auch an Produkten, bei denen mich die miserable Einstufung überrascht. Mit jedem „E“ zucke ich innerlich zusammen. Ich hoffe kurzzeitig, dass hier vielleicht doch das Schweizer Schulnotenprinzip maßgebend ist, bei dem die Sechs als höchste Auszeichnung gilt und die Eins maximale Geisteshemmung anzeigt. Doch ich merke schnell: So ist es nicht. Die Realität ist gnadenlos: Seit Jahren stopfe ich den größten Unfug in mich hinein.
Das E soll den Konsumenten vermutlich als Drohung ins Auge treten, es steht für „Esel des Essens“, für „einzigartig ungesund“, für „Endstation Urne“. Mit jedem weiteren „E“ steigt in mir stärker das Gefühl auf, eine wandelnde Kloake zu sein, nicht würdig, auch nur einen weiteren Bissen zu mir zu nehmen.
Meine Schritte werden schwerer. Ich senke den Kopf, als wäre ich ein verschüchterter Tropf. Mein Freund bemerkt mein Unbehagen – auch wenn ich versuche, zu verbergen, dass die Regale plötzlich zu meinen Feinden geworden sind. Mit einem beruhigenden Blick sagt er: „Ich habe in einer Dokumentation gesehen, dass dieser Score die Realität nicht immer objektiv widerspiegelt.“
Danke, Sebastian. Aber was ist das überhaupt für eine Welt, in der wir immer mehr Themen mit Ranglisten betrachten? In der wir uns nach diesen Bewertungen richten müssen? Man verinnerlicht sie doch automatisch, und plötzlich urteilt man, ohne es zu wollen. Man beginnt, ständig alles zu kategorisieren, ohne innezuhalten und darüber nachzudenken, ob das überhaupt notwendig ist.
Was, wenn Messwerte und Einstufungen auch in Bereichen Einzug halten, die wir vor schablonenhaften Entscheidungen schützen sollten? Trägt man auf Partys womöglich zukünftig ein Schild mit dem eigenen „Flirt-Score“ (André Gärisch: Augenaufschlag: 85 Punkte, Manieren: 49 Punkte, Tanztalent: 6 Punkte)? Oder bewerten schon bald Familien die Kochkünste von Oma, Opa, Mutter, Vater, Tochter und Sohn per App – mit täglichen Eintragungen? „Opa hat die Milch überlaufen lassen – zwei Minuspunkte. Er liegt jetzt hinter Papa.“ Unvorstellbar? Da wäre ich mir nicht sicher.
Wer weiß, ob wir nicht bald – nach dem Nutri-Score – mit einem „Nutria-Score“ konfrontiert werden? Nutrias sind Sumpfbiber, die ursprünglich aus Südamerika stammen und sich mittlerweile in Mitteleuropa, auch in Deutschland, angesiedelt haben. An welchem Weiher finden wir also die perfekten Nager, mit einem Score von über 90? Die mit dem niedlichsten Blick oder der süßesten Backentaschenbewegung beim Verputzen von Stängeln?
Zugegeben, der Nutri-Score hat durchaus seine Vorteile. Er gibt uns eine grobe Orientierung, ob das Lebensmittel, das wir gerade betrachten, eher ein „Freund der Gesundheit“ oder eine „Nahrung für die Notaufnahme“ ist. Und gerade in Zeiten, in denen uns die Welt mit immer mehr Daten bombardiert, gibt es Schlimmeres als ein bisschen Vereinfachung.
Doch ganz ehrlich: Zu viel Bewertung kann eben auch stressen und uns in ein Denken drängen, das nur noch Schwarz und Weiß kennt. Dabei möchte man doch manchmal einfach nur in Ruhe ein Stück Nougat genießen, ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob man gerade die richtige Wahl getroffen hat.