Mehr als fünf Meter ist der Stromer Kia EV9 lang – viel Platz für Gepäck, Kind und Hund. Aber passen solche Dimensionen überhaupt zu Deutschland? Ein Praxistest.
Kennen Sie das Wort „Flugscham“? Es beschreibt das schlechte Umweltgewissen, das manche Passagiere wegen der CO2-Emissionen ihres Flugzeugs überkommt. Seit 2020 steht der Begriff im Duden. Wäre es da nicht an der Zeit, auch ein Wort für den Straßenverkehr zu ergänzen? „SUV-Scham“, zum Beispiel. Schließlich sind die tonnenschweren Riesen zuletzt mächtig in Verruf geraten. Wegen ihres hohen Gewichts verbrauchen sie viel, produzieren einen höheren Reifenabrieb und nehmen viel Platz im öffentlichen Raum ein. Paris hat deshalb die Parkgebühren für diese Fahrzeugkategorie drastisch erhöht. Andererseits lag der SUV-Anteil an den Neuzulassungen im Jahr 2023 bei 30 Prozent – ein neuer Rekordwert.
Genau in dieser Zeit bringt Kia nun ein neues Modell auf den Markt, den EV9: fünf Meter lang, 2,6 Tonnen schwer, 385 PS stark. Im Innenraum gibt es drei Sitzreihen, wahlweise mit sechs oder sieben Sitzen. Was fehlt, ist ein Auspuff, denn der EV9 ist rein elektrisch unterwegs. Auch sonst wird der Hersteller nicht müde, die (vermeintliche?) Nachhaltigkeit des Elektro-SUVs zu betonen. So komme unter anderem recycelter Kunststoff bei den Sitzen, Sonnenblenden, Zierelementen, Kopfstützen und im Dachhimmel zum Einsatz.
Ist das nur ein Tropfen auf den heißen Motor? Oder ist der EV9 womöglich genau das, worauf Familien in Deutschland gewartet haben: eine Alternative zu den drögen Vans, von denen es bislang nur sehr wenige elektrische Modelle gibt?!
Um diese Frage zu beantworten, darf die Zielgruppe selbst das Urteil fällen. Melanie (38), Ben (44), Marie (4), Joshua (1) und Mischlingshündin Nayla (12) haben sich bereit erklärt, mit dem Elektro-SUV eine Runde zu drehen. Zusammen mit Reporter Steve (39) und seiner Hündin (2) wird der Stromer bis unter die Decke vollgepackt. Die Messlatte liegt hoch, denn im Alltag besitzt die Familie zwar sechs Fahrräder, aber kein Auto. „Im Urlaub wäre so ein Ding schon ganz nützlich“, räumt Ben ein. Normalerweise leiht sich die Familie für solche Anlässe immer das Auto der Eltern – bisher ein Benzin-Van.
Für Stadtverkehr absurd groß
Schon beim Einparken machen sich die Dimensionen des EV9 bemerkbar. Der klassische Blick nach hinten bringt kaum etwas. Zu groß wäre die Gefahr, etwas zu übersehen. Zum Glück verfügt das Auto über zahlreiche Assistenzsysteme, darunter eine Rückfahrkamera, beidseitige Tote-Winkel-Kameras sowie eine computergenerierte 3D-Ansicht, die den Koloss aus der Vogelperspektive zeigt. Obendrein gibt es einen Querverkehrswarner. Nähert sich beim Ausparken ein Auto oder ein Fahrrad von der Seite, ertönt ein Piepton und das Lenkrad vibriert. Diese Hilfsmittel erleichtern das Manövrieren enorm, sorgen aber gerade am Anfang für eine Reizüberflutung. Auf welchen Bildschirm soll man zuerst gucken, auf welches Warngeräusch zuerst hören?
Ben sieht’s locker. „Mit dem Auto haben wir immer Vorfahrt“, schlussfolgert er und lacht.
Bevor der Familientrip startet, holt Ben die Kindersitze aus der Garage. Befestigen kann er sie entweder in der zweiten oder in der dritten Reihe; die dortigen Sitze sind mit einer sogenannten Isofix-Halterung versehen. Je nach Ausstattungsvariante lassen sich die Sitze sogar zur Seite drehen. Beim Testfahrzeug besteht diese Möglichkeit leider nicht, denn dort sind die sogenannten Relax-Sessel verbaut. Letztlich geht die Installation aber trotzdem sehr schnell – Daumen hoch vom Papa.
Deutlich zeitraubender gestaltet sich die Diskussion, wer wo sitzt. Marie möchte einen der Hunde neben sich haben, würde aber am allerliebsten erst gar nicht einsteigen („zu warm“). Joshua hadert mit seinem Kindersitz. Am schnellsten kommen die Hunde zur Ruhe: einer auf der Rückbank, der andere im Mittelgang.
„Wir haben richtig, richtig viel Platz“, stellt Melanie fest, nachdem wir um die Ecke gebogen sind. Der EV9 fühlt sich luftiger an als etwa der Elektro-Van ID.Buzz von VW. Außerdem ist das Auto so gut gefedert, dass man fast das Gefühl hat zu schweben. Er schaukelt so angenehm, dass Joshua die Augen zufallen. Nur Marie wird mit dem Riesenauto nicht richtig warm. „Mama, mir ist schlecht“, ruft die Vierjährige von der Rückbank.
Laut Herstellerangaben kommt der EV9 mit einer Akkuladung bis zu 563 Kilometer weit. Die stärker motorisierte GT-Variante (unser Testfahrzeug) hat eine Normreichweite von 505 Kilometern. In der Realität sind es eher 450 Kilometer – und auch nur dann, wenn man nicht zu sehr aufs Strompedal drückt und den „Ökomodus“ auf der Autobahn aktiviert. Das Navi berechnet auf Wunsch die Ladestopps bei der Routenplanung ein. Da aber nicht immer genau dann eine Ladestation kommt, wenn die Energie verbraucht ist, sind Pausen alle drei bis vier Stunden realistisch. „Bei unseren Urlaubsreisen wäre das nicht ganz optimal“, findet Melanie. „Normalerweise fahren wir immer nachts, damit die Kinder schlafen. Dann versuchen wir, möglichst lange am Stück durchzufahren.“
Die gute Nachricht: Wirklich lang sind die Pausen im EV9 nicht. Da er – wie sein kleinerer Bruder, der EV6 – mit einem 800-Volt-System ausgestattet ist, dauert es nur 24 Minuten, ihn von zehn auf 80 Prozent aufzuladen. Ein kurzer Abstecher aufs WC, eine Runde mit dem Hund, dann noch einen Happen essen – eigentlich lädt er fast schon zu schnell, als dass man ordentlich Pause machen könnte.
Wenn er denn lädt. An diesem Punkt offenbart der EV9 nämlich seine Schwachstelle. Während die Familie einkaufen geht, will der Autor die Schnellladestation vor einem Supermarkt nutzen. Doch erst beim dritten Versuch fließt der Strom – vorher bricht der Ladevorgang immer wieder ab. Dass es am Auto liegt und nicht an der Ladesäule, zeigt sich später auf der Autobahn, wo abermals mehrere Versuche nötig sind. Ein anderer E-Auto-Fahrer verrät schließlich einen Trick: Stecker nach oben „andrücken“, damit die Kontakte einrasten. Funktioniert, wirkt aber peinlich bei einem Auto für über 80.000 Euro.
Als die Familie zurückkehrt, kann der SUV mit seiner Größe punkten. Obwohl alle Sitze belegt sind, passen locker mehrere Getränkekisten in den Kofferraum. Zusätzlich gibt es unter der Motorhaube einen kleinen Abstellbereich, den sogenannten „Frunk“. Dort passt allerdings nicht viel mehr als das Ladekabel hinein. Am nächsten Tag probieren wir eine andere Konstellation: Für eine Kulturveranstaltung transportieren wir zwei Lautsprecherboxen, ein Keyboard und mehrere Notenständer. Wir müssen nicht mal die Sitze umklappen. Für das ganz große Gepäck könnte ein Anhänger mit bis zu 2,5 Tonnen Anhängelast mitfahren.
Theoretisch könnten wir das Keyboard sogar am Auto selbst anschließen. Die Batterie des EV9 nimmt nämlich nicht nur Strom auf, sondern gibt ihn bei Bedarf auch wieder ab. Im Idealfall kann man auf diese Weise sogar das Stromnetz oder das eigene Haus versorgen: Strom tagsüber über Solarmodule laden, im Auto speichern, nachts nutzen. Für dieses sogenannte bidirektionale Laden gibt es in Deutschland derzeit aber noch viele rechtliche Hürden.
„Pass nur auf, dass niemand einen Molotowcocktail wirft“, warnt ein Freund, als wir die Musikinstrumente schließlich im Stadtpark ausladen. „Solche Riesen-SUVs sind hier nicht sonderlich beliebt.“ Papa Ben ist ebenfalls zwiegespalten. „Die Ausstattung ist sehr luxuriös“, urteilt er. „Und man könnte definitiv mit vielen Leuten in den Urlaub fahren, ohne dass es Platzprobleme gäbe.“
Trotzdem ist ihm das Konzept eines so großen Autos suspekt – egal ob es mit Benzin oder Strom angetrieben wird. „Die äußeren Abmessungen sind für den städtischen Bereich völlig absurd. Was da an Parkraum verschwendet wird!“ Für längere Reisen möchte die Familie daher auch in Zukunft bevorzugt den Zug nehmen. Am zufriedensten zeigen sich die Hunde. Am Ende der Fahrt sind beide Vierbeiner in den Tiefschlaf gefallen – ganz ohne SUV-Scham oder sonstige Bedenken.