Beim Rudolstadt-Festival bringen Künstler aus 40 Ländern zwischen Folk-Tradition und Experimenten die Vielfalt der Musik zu Gehör. Einer der Pilger, den es jedes Jahr an vier Tagen nach Thüringen zieht, ist unser Autor Andreas Lüschen-Heimer.
Sympathische Bescheidenheit kennt und schätzt man an dem Mann mit dem urtümlichen Filzhut. Bernhard Hanneken, seines Zeichens langjähriger Programmchef des Rudolstadt-Festivals (ehemals Tanz- und Folk-Fest), empfiehlt auf die vom Interviewer gestellte Frage, ob er denn Tipps geben könne, was man am ersten Juli-Wochenende in Rudolstadt gesehen und gehört haben muss: „Die Nase auf Neugier ausrichten und sich durch das Festival treiben lassen“. Nachdem er bestimmt ein Jahr so leidenschaftlich wie akribisch am Programm getüftelt hat, empfiehlt er doch tatsächlich, nicht so sehr auf Namen zu schauen, sondern sich einfach treiben zu lassen. All jene, die das Festival schon öfter besucht haben, wissen natürlich genau, was Hanneken damit meint und dass eben diese neugierige Offenheit schlichtweg das vielversprechendste Motto ist, aus vier glückseligen Sommertagen das Maximale, ach besser: Genüsslichste heraus zu holen. Gleichwohl fährt man ja auch nicht nach Thüringen ohne das liebevoll gestaltete Programmheft – auf der Webseite bestellt, wird es postalisch nach Erscheinen ab 6. Juni versandt – studiert zu haben. Und dieses ist bei vielen Festivalgängern traditionell voller Kreuzchen, jeder Menge „Muss“ und „Kann“ und naturgemäß auch voller unliebsamer, ja, geradezu schmerzhafter Programmüberschneidungen. Was den etwa dreißig, oft gleichzeitig bespielten, riesigen bis winzigen Veranstaltungsorten geschuldet ist. Dazu zählen die drei Bühnen auf der idyllischen Heidecksburg, das schmucke Theater, die kuschelige Stadtkirche, die sechs Bühnen im weitläufigen Heine-Park, die Markt-Bühne sowie diverse Straßen, Höfe, Plätze und Gärten.
Neugierige Offenheit, die viel verspricht
Was hat der treue Besucher hier schon alles erlebt? Im eigentlichen Sinne sogenannte Headliner gibt es in Rudolstadt traditionell gar nicht, große Namen waren freilich regelmäßig dabei: Fairport Convention mit Richard Thompson, Lucinda Williams, Laurie Anderson, The Proclaimers, Bonnie Prince Billy, Lambchop, Calexico, James Taylor, Oyster Band, Youssou N’Dour, LaBrassBanda, Toots & The Maytals, Rufus Wainwright, Asian Dub Foundation – und viele mehr.
Deutschland ist Länderschwerpunkt
Beim Rudolstadt-Festival wird der renommierte Weltmusikpreis RUTH verliehen, der in diesem Jahr an das Projekt „Silent Tears – The Last Yiddish Tango“ geht. Das Projekt vertonte Gedichte von Frauen aus Osteuropa, die den Holocaust überlebt haben. Auch einen Tanz- und Länderschwerpunkt gibt es. Als Tanz des Jahres wurde der Schottische Walzer ausgewählt. Für den Länderschwerpunkt wurde – nach nunmehr 34 Nach-Wende-Jahren Festival-Geschichte! – Deutschland auserkoren. Schwerpunkte mit England, USA, Kuba, Iran, China, Brasilien, Norwegen, Griechenland, die Schweiz, Schottland, Tansania und Italien fanden bereits statt. Nun wird viel deutsche (und deutschsprachige) Musik präsentiert. Dieses ambitionierte Unterfangen ist wegen seiner Vielfalt jenseits von „Volksmusik“ mit seinen sehr international geprägten Einflüssen nicht so einfach. Die großen Namen wird man nicht finden. Auf sie wird beim Rudolstadt-Festival – vermutlich auch wegen der stark gestiegenen Künstler-Gagen – seit ein paar Jahren zunehmend verzichtet. Der Vorteil? Der Preis der Dauerkarte für vier Festivaltage konnte erneut bei 120 Euro gehalten werden. Hinzu kommen – je nach Übernachtungswunsch (Zeltplatz, Caravan, Turnhalle) – ein paar Dutzend Euro weitere Gebühren. Insgesamt aber bleibt der finanzielle Aufwand im Vergleich zur Festival-Konkurrenz erfreulich überschaubar. Auch gibt es auf dem „Gelände“ (dieses ist im Grunde die ganze Stadt) diverse günstige (Selbst)Versorgungsmöglichkeiten.
Zurück zum Länderschwerpunkt: Mit Dicht & Ergreifend treffen wir auf groovenden Hip Hop, ein auf dem Rudolstadt-Festival eher selten dargebotenes Genre. Viele Folk- und Weltmusik-Freunde werden einen Bogen darum machen. Diese lassen sich vermutlich eher beim David Lübke Trio aus Hannover blicken. Sehr berührende Texte werden von einer feinen, schlichten Instrumentierung (Gitarre/Banjo, Cello und Geige) umgarnt und mit Irish-Folk-, Country- und Bluegrass-Arrangements veredelt. Bob Dylan, Reinhard Mey und irische Barden wie Christy Moore werden als Inspiration genannt.
„Blasmusik für bessere Zeiten“ erlebt man mit G. Rag & Die Landlergeschwister. Bis zu 16 Musiker covern wild und eigentümlich drauf los. Kraftwerks „Das Model“, Hank Williams’ „Honky Tonkin’“ oder „Der Räuber und der Prinz“ von D.A.F. werden hypnotisierend und extrem tanzbar dargeboten. Klicken Sie – zum Beispiel auf der Festival-Homepage – doch einfach ein Live-Video an: Vier Klarinetten, drei Trompeten, zwei Basstrompeten, Tuba, Schlagzeug, Gitarre, Banjo, Akkordeon und Gesang sorgen für denkbar beste Laune. Das krasse Gegenteil dazu scheinen bereits vom Namen her The Düsseldorf Düsterboys zu sein. Oder ist hier etwa Ironie im Spiel? Das Quartett stammt jedenfalls aus Mainz und lebt in Essen. Ihre unaufgeregten Texte beschreiben Alltags-Dinge, die musikalische Inspiration für ihren Folk-Pop entstammt (überwiegend) den Sechzigern und Siebzigern. Das erste Album hieß „Nenn mich Musik“. Ein Hauch Melancholie ist natürlich trotzdem inkludiert. Was dem insgesamt doch überwiegend freud- und lustvollen, positiv stimmenden Gesamtprogramm auch mal gut tut.
Der unwiderstehliche Rudolstadt-Flow
In Party-Musik darf man sich zum Beispiel mit Jamila & The Other Heroes und ihrer schrillen Mixtur aus Afro-Pop, psychedelischen Gitarren-Riffs, Hiphop und peitschenden Drum-Beats stürzen. Die Berliner sind multikulturell aufgestellt und haben eine infizierende, immer aktuelle Botschaft parat: „Wir alle können Helden sein…und die Welt zu einem besseren Ort machen.“
Die Party darf – so man mag – weitergehen mit Bukahara, den vielleicht bekanntesten Vertretern unseres Länderschwerpunktes. Die ebenfalls international besetzte Combo entfacht mit Trompete, Geige, Perkussion, Gitarre ein musikalisches Feuerwerk zwischen Balkan-Pop, Jazz, Folk, Swing und Orient. Wer Tausende ekstatisch hüpfend erleben möchte, muss dorthin gehen.
Wer mit Kindern nach Rudolstadt kommt, der statte auch dem kunterbunt-verrückten Kinderfest einen Besuch ab. Auch hierhin „verirren“ sich manchmal die großen Bands des Hauptprogramms. Langweilig wird es jedenfalls nirgends – und niemandem.
Weitere Höhepunkte des diesjährigen Programms sind zu nennen: Die mit ihrem Namen Neugier weckenden Australier Ukulele Death Quad verquirlen Flamenco, Ska, Pop, Rock, Folk und Jazz zu etwas Ureigenem. Es fiel zu Recht der Begriff „Hardcore-Ukulele“. Und von diesen Ukulelen geht wohl auch öfter – in altehrwürdiger Punk-Attitüde! – eine zu Bruch.
Wer bereits donnerstags anreist, erlebt den Bob-Marley-Spross Julian Marley mit seiner garantiert sehr tanzbaren Reggae-Darbietung. Angeblich „Im Bistro zuhause“ sind La Gapette aus der Bretagne. Französische Musette, Chanson, Balkan-Pop und Ska werden für einen furiosen Auftritt sorgen. Der sehr junge, sehr virtuose, sehr traditionsbehaftete, sehr bezaubernde Geiger Ryan Young vertritt Schottland, und das irische Emma Langford Ensemble mit seiner schillernden Frontfrau wird affine Besucher ebenfalls restlos in den Bann ziehen.
Begeisternde Country-Music bieten die Chicagoer Henhouse Prowlers. Sie gelten mit den himmlischen Harmonien im Verbund mit furiosem Fingerpicking als „Bluegrass Botschafter“. Auch das erscheint dem Autor dieser Festival-Vorschau als ein persönliches „Muss“. Aber irgendwann im Verlauf dieser vier heiß ersehnten Tage werden diese erfahrungsgemäß immer unwichtiger. Sobald nämlich der unwiderstehliche Rudolstadt-Festival-Flow entsteht. Wie immer.