Ein deutsch-italienisches Forschungsteam konnte im Schädel eines beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. verstorbenen Mannes erstmals die Umwandlung von Hirngewebe in Glas nachweisen. Die Existenz von organischem Glas gilt als Weltsensation.

Als der berühmte römische Naturgelehrte Plinius der Ältere im Herbst des Jahres 79 n. Chr. an Bord eines Schiffes den Golf von Neapel entlang fuhr, passierte er auch Herculaneum. Das kleine und unbedeutende Fischerörtchen hatte sich ähnlich wie das nahe Pompeji durch die Niederlassung vermögender Bürger zu einem angesagten Badestädtchen mit schätzungsweise 5.000 Einwohnern entwickelt, doch zu diesem Zeitpunkt war sein Schicksal schon besiegelt. Eine der schlimmsten Naturkatastrophen der Antike hatte die Region am Vesuv völlig unvorbereitet getroffen. In der Wahrnehmung der damaligen Römer galt der Vulkan als harmlos, weshalb sich rund um den Vesuv mit seinen nährstoffreichen Böden immer mehr Gemeinden angesiedelt hatten, nicht nur an den südlichen Hängen mit Pompeji als dem bekanntesten Beispiel, sondern auch entlang des südwestlichen Küstenstreifens mit Herculaneum, nur etwa 15 Kilometer von Pompeji und gerade einmal sieben Kilometer vom Vesuv entfernt.
Allein 1982 rund 300 verkohlte Leichen geborgen
Von daher war es fast logisch, dass Herculaneum als erstes von der gewaltigen Eruption betroffen war, die nach neuesten Erkenntnissen am 24. Oktober 79 n. Chr. stattfand. Anders als Pompeji blieb Herculaneum zwar das Bombardement mit Bimssteinen und Lavabrocken erspart, doch das Städtchen wurde stattdessen unter einer rund 20 Meter dicken Schicht aus Magma, Gestein und Gasen – dem sogenannten „pyroklastischen Strom“ – komplett begraben. Gerade diese dichte Schicht trug dazu bei, viele Details des damaligen Alltags erstaunlich gut zu konservieren. Zwar wurden die Häuserwände teils eingedrückt, aber vieles blieb erhalten: verkohlte Möbel, Holzteile wie Türen oder Fensterrahmen, Stoffe, Papyri, Lebensmittel – sogar Wandgemälde, Fresken und Mosaiken. Nach dem offiziellen Startschuss der Ausgrabungen anno 1738 und späteren, deutlich wissenschaftlicheren Arbeiten konnten aber zunächst nur vergleichsweise wenige Relikte menschlicher Opfer geborgen werden. Was zu der Annahme führte, dass es der Mehrzahl der Einwohner gelungen sein könnte, sich noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Doch im Laufe der vergangenen Jahrzehnte konnten bei Ausgrabungen recht viele Skelette geborgen werden, alleine 1982 rund 300 verkohlte Leichen in Bootsschuppen am vormaligen Hafen und weitere in einem Gewölbe nahe der einstigen Arena. Die Untersuchungen dieser Skelette legten den Schluss nahe, dass die Menschen innerhalb weniger Sekunden unter extrem großer Hitzeeinwirkung, verursacht von einer Wolke aus glühenden, bis zu 500 Grad heißen Gasen, an multiplem Organversagen gestorben sein mussten.
Ein unscheinbarer Skelett-Fund aus dem Jahr 1960 – entdeckt im Collegium Augustalium, einer öffentlichen Kultstätte zu Ehren des Kaisers Augustus – blieb glücklicherweise jahrzehntelang nahezu unberührt. Erst 60 Jahre später nahmen Archäologen das Relikt mit Hightech-Methoden unter die Lupe. 2020 hatte der forensische Anthropologe Pier Paolo Petrone von der Universität Neapel Federico II. daher mit einer im Magazin „New England Journal of Medicine“ veröffentlichten Studie für Aufsehen und ungläubiges Staunen sorgen können. Im aufgebrochenen Schädel konnte Petrone eine Substanz ausmachen, die ihn an Glas erinnerte. „Ich sah etwas glitzern im Inneren des Schädels und wusste sofort, dass ich da etwas beinahe Einmaliges vor mir habe“, sagte er. „Die glasigen Überreste in der Vulkanasche hatten ein schwarzes Aussehen und eine glänzende Oberfläche, ähnlich wie Obsidian. Aber im Gegensatz zu Obsidian waren die glasigen Überreste extrem brüchig und leicht zu zerbröckeln.“
Das war aus mehreren Gründen eine Überraschung. Zum einen, weil beim Vesuvausbruch von 79 n. Chr. gar kein natürliches vulkanisches Glas entstanden war. Zum anderen, weil Hirngewebe bei Ausgrabungen so gut wie nie erhalten bleibt – und wenn doch, dann meist nur als eine verrottete, seifenartige Masse aus Glyzerin und Fettsäuren. Doch Petrone konnte in der glasartigen Substanz mithilfe eines Mikroskops tatsächlich Proteine, Fettsäuren und neuronale Strukturen nachweisen – typische Bestandteile des menschlichen Gehirns. Sogar Fettsäuren aus den öligen Sekreten menschlicher Haare waren nachweisbar. „Es war sehr aufregend, weil ich begriff, dass es sich bei dem konvertierten Gehirn um etwas Einzigartiges handeln musste, das noch nie zuvor in einem anderen archäologischen oder forensischen Kontext entdeckt worden war“, sagte Petrone.

Er stellte daher die Hypothese auf, dass es sich bei der Substanz um ein gläsernes Gehirngewebe handeln könnte, entstanden durch Vitrifikation, also die physikalische Umwandlung einer Flüssigkeit in ein amorphes, nicht-kristallines Material. Seiner Annahme gemäß musste es in dem Gebäude bei Temperaturen von bis zu 520 Grad Celsius zum Schmelzen der Gehirnmasse gekommen sein, die sich aber kurz danach rasant wieder abgekühlt haben musste. Nur so konnte sich die Masse verfestigen, ohne Kristalle zu bilden. Eine Erklärung der konkreten äußeren Umstände, wie der Vitrifikationsprozess abgelaufen sein könnte, konnte Petrone seinerzeit allerdings noch nicht liefern. Auch stellte sich die Frage, warum nicht auch bei anderen Opfern der Katastrophe von Herculaneum ein vergleichbares Phänomen festgestellt werden konnte.
Starke Hitze und schnelle Abkühlung
Auch wenn Petrone damals noch nicht mit letzter Sicherheit sagen konnte, ob es sich bei der gefundenen Substanz wirklich um verglastes Gehirngewebe handelte, war die Theorie von der Entstehung organischen Glases (nicht zu verwechseln mit sogenannten „organischen Gläsern“, die aus Kunstharz bestehen und etwa in Brillengläsern Verwendung finden) plötzlich in aller Munde. Aus gutem Grund: Noch nie zuvor war ein solcher Fund gemacht worden – eine echte wissenschaftliche Sensation. Klassisches Glas besteht meist aus Quarzsand oder Silikaten, die bei sehr hohen Temperaturen schmelzen und dann extrem schnell abkühlen – so schnell, dass sich keine Kristalle bilden können. Organisches Gewebe hingegen besteht zum größten Teil aus Wasser. Normalerweise verkohlt oder verbrennt biologisches Gewebe daher sofort unter starker Hitze. Theoretisch bedurfte es daher eines ganz gravierenden Temperaturkontrasts, um das Wasser in einem biologischen Gewebe amorph erstarren zu lassen. In der Natur kommen diese Temperaturbedingungen gelegentlich vor, was zur Bildung von natürlichem Glas führen kann – etwa bei der schnellen Abkühlung von Lava nach Vulkanausbrüchen (das vulkanische Glas Obsidian) oder durch Einschläge von Blitzen (Fulgurit) oder Meteoriten (Tektit oder Moldavit).
Dass es sich bei der schwarzen, ähnlich wie Obsidian glänzenden Substanz tatsächlich um im Verlaufe des Vulkanausbruchs anno 79 n. Chr. entstandenes organisches Glas handelt, konnte Pier Paolo Petrone gemeinsam mit seinem Landsmann, dem Geologen und Vulkanologen Guido Giordano von der Universität Roma Tre, sowie mit Unterstützung der deutschen Glas-Spezialisten um Prof. Joachim Deubener von der Technischen Universität Clausthal nun eindeutig nachweisen. Ihre Erkenntnisse wurden Ende Februar 2025 im Fachmagazin „Scientific Reports“ veröffentlicht.
Zunächst einmal fand das Team heraus, dass es sich bei dem Opfer um einen etwa 20 Jahre alten Mann gehandelt hatte, der in einer kleinen Kammer der an der Hauptstraße von Herculaneum befindlichen Kultstätte auf einem Holzbett mit dem Gesicht nach unten liegend von der Katastrophe heimgesucht worden war. Da der junge Mann offenbar keinerlei Versuche unternommen hatte, sich wie die meisten seiner Mitbürger durch Flucht Richtung Hafen oder Küste in Sicherheit zu bringen, stellten die Wissenschaftler die Vermutung auf, dass es sich womöglich um einen Wächter des Collegium Augustalium gehandelt haben könnte. Neben Teilen des Gehirns waren auch Überreste des Rückenmarks verglast worden. Es wurden aufwändigste physikalische und chemische Untersuchungen durchgeführt, darunter auch thermische Analysen mit winzigen Proben an der Technischen Universität Clausthal. „Das Material besteht zum großen Teil aus Kohlenstoff, welches auch seine schwarze Farbe begründet“, ságt Prof. Deubener, der in den Proben alle erforderlichen Indikatoren für einen Glaszustand nachweisen konnte. Auch der Nachweis von Sauerstoff ließ auf den organischen Ursprung schließen. „Ein biologische Gewebe wie das Gehirn, das reich an Wasser ist, benötigt äußerst spezielle Bedingungen, um sich in Glas zu verwandeln“, so Guido Giordano. Mithilfe von Rasterelektronenmikroskop (REM) und der sogenannten Raman-Spektrokospie konnten unter anderem sogar Strukturen wie Axone, also Teile der Nervenzellen samt Vesikeln, Filamenten und Membranen, sichtbar gemacht werden. Nach den thermischen Experimenten war das Team zu der Erkenntnis gelangt, dass Gehirn und Rückenmark zum Verglasen zunächst einer Temperatur von mindestens 510 Grad Celsius und einer schnellen direkt anschließenden Abkühlung ausgesetzt gewesen sein mussten. „Die Erhitzungsphase kann nicht lange gedauert haben. Sonst wäre das Material gekocht worden und verschwunden“, so Guido Giordano. Was laut Giordano wahrscheinlich bei den meisten anderen Opfern von Herculaneum genau so abgelaufen sein könnte und womöglich nur wegen der speziellen Bedingungen des Fundorts und anderer, noch unbekannter Faktoren bei dem jungen Mann ausgeblieben war.
Rekonstruktion des letzten Tages

Für die Forscher stellte sich nun das knifflige Problem, eine Erklärung für die notwendigen Temperaturbedingungen der Vitrifikation zu entwickeln. Denn die Glutlawinen der pyroklastischen Ströme erreichten maximal 465 Grad – zu wenig für eine Verglasung. Außerdem kühlten sie zu langsam ab. In der Rekonstruktion des letzten Tages von Herculaneum kam das Team daher auf ein einziges Szenario, das in ihren Augen sinnvoll und wahrscheinlich wäre: Noch geraume Zeit bevor die pyroklastischen Ströme die Stadt erreichten, muss sich eine extrem heiße Aschewolke vom Vesuv gelöst haben – mit Temperaturen von mindestens 510 Grad Celsius. „Die Aschewolken können leicht 500 oder 600 Grad heiß sein, aber sie können schnell vorbeiziehen und wieder verschwinden“, so Giordano. „Die Wolke muss sich daher schnell wieder aufgelöst haben, sodass die Überreste des Opfers so schnell abkühlen konnten, dass der Verglasungsprozess ausgelöst werden konnte.“ Diese Aschewolke habe nur eine dünne Schicht auf dem Boden von Herculaneum hinterlassen. „Erst später in der Nacht wurde die Stadt vollständig von den Ablagerungen der pyroklastischen Ströme verschüttet“, sagt der Wissenschaftler. Für diese Theorie spricht, dass solche Wolken auch bereits bei anderen Vulkanausbrüchen registriert werden konnten, bei denen die Temperatur nach Auflösung der Wolke schnell – innerhalb weniger Minuten – wieder auf die normale Umgebungstemperatur abgesunken war. Förderlich für den Verglasungsprozess waren laut den Forschern aber auch die dicken Schädelknochen um das Hirngewebe bzw. die Wirbelsäule beim Rückenmark: Diese schirmten das Gewebe offenbar so gut ab, dass es trotz enormer Hitze nicht sofort verdampfte.