Nerven aus Stahl, oder was sonst unterscheidet die „Jungen“ von den „Alten“, beim Schlagen der Bälle und Gegner im Tennis-Zirkus?
Spaghetti. Seine Pasta-Methode, um in Wimbledon seinen Gegnern das finale „Basta“ zu servieren, verriet Boris Becker im Nachgang seiner außergewöhnlichen Spieler-Karriere, die er als 17-Jähriger mit einem Paukenschlag gegen die Etablierten beim Grand Slam im Londoner Vorort begann. Heute sind die Ernährungsprogramme der Top Ten ausgeklügelter. Wie auch die Technik, die sie umgibt.
Ein Känguru? – Das würde sich Carlos Alcaraz nach seinem heiß ersehnten Sieg bei den Australian Open als Tatoo stechen lassen. Kein schlechter Plan: Legenden wurden schon frühere Große im Tennis, indem sie Außergewöhnliches leisteten und Überraschendes inszenierten. Auch mithilfe ihrer Ticks und Motivationstierchen. Auf und neben dem Platz.
Rafael Nadal, Roger Federer, Andy Murray und auch die stilleren Giganten, wie Juan Martin del Potro, haben sich verabschiedet. Novak Djokovic bleibt übrig von einer besonderen Generation, die dieses Jahrtausend im Tennis dirigierte. Die jungen Nachrücker durften noch ein wenig mit den „Big Three“, „Four“ und mehr spielen, während sie bereits aus eigener Kraft das Zepter übernahmen. Speziell in den Grand Slams. Erstaunlich schnell haben sich die bislang jüngste Nummer eins der Weltrangliste, Alcaraz, und der erste Italiener, der sich auf dieser Position einrichtete, Jannik Sinner, an die körperlichen und mentalen Strapazen sowie die unterschiedlichen Beläge der Grand Slams gewöhnt. Zum Vergleich: Becker freundete sich nie mit dem Sand von Paris an. Dafür setzte der 57-Jährige auf Hechtsprünge, um zu gewinnen– nicht auf Kängurus.
Technische Hilfsmittel als großer Vorteil
Was unterscheidet die „Jungen“ ernsthaft von den „Alten“? Wieviel neue Technik ist im Spiel, auf die die „Alten“ in jungen Jahren beim Training noch nicht zurückgreifen konnten? Oder geht es vor allem um den Geist, das Mentale im Spiel? Um das, was sich Novak Djokovic zum Ausklang seines Lebenswerks von Andy Murray als Berater einflüstern lassen will, der auch mit künstlicher Hüfte nie lockerließ?
Alcaraz weiß, was ihm nun bevorsteht: „Es ist so, als würde man gegen beide spielen“, sagte der 21-Jährige bei einem Exhibition-Turnier in New York. Dennoch gibt der Spanier, dem es am Saisonende in den Hallen und auch bei den ATP Finals nicht so gut erging, alles andere als auf. „Ich bin mir sicher, dass ich irgendwann der Champion von Australien sein werde. Hoffen wir, dass es nächstes Jahr sein wird.“ Der junge Spanier münzt, wie einst der junge Djokovic, seine Defensivschläge gekonnt in Winner um. Sogar im Wimbledon-Finale gegen den „Djoker“. Das heißt, der Nachkommende sticht den Serben, der einen Rekord an Grand-Slam-Trophäen in seiner Vita stehen hat, mit dessen eigenen Waffen aus.
Moment, der Stoppball ist zusätzlich Alcaraz’ Spezialmittel. Gefühlvoll und – ebenso ungewöhnlich wie anspruchsvoll – meist mit der Vorhand gespielt. Ein Element seines variantenreichen Matchaufbaus, dem ein Gegner mental und physisch schwer folgen kann: Weder in der Häufigkeit noch im Tempo, quer über den ganzen Court.
Der junge Spanier setzt sich beim Thema „Topspin“ von noch früheren Legenden wie Andre Agassi und Pete Sampras klar ab. Steffi Grafs Gatte und sein Langzeit-Rivale erreichten mit ihrer Vorhand jeweils nur etwa 1.800 Umdrehungen pro Minute. Alcaraz gelingen bis zu 3.500 Umdrehungen, womit er sich Nadals außergewöhnlichen Werten von bis zu 5.000 Umdrehungen pro Minute annähert. Federers Vorhand konnte mit 2.500 Umdrehungen pro Minute weder Nadals noch Alcaraz’ Marken touchieren.
Der Vorteil der „Jungen“: Sie können mithilfe technischer Hilfsmittel wie Sensoren, Augmented Reality und Künstlicher Intelligenz von Anfang an ihr Training planen und analysieren, um komplexe Schläge zu vervollkommnen.
Das zahlt sich aus: Gelingt Alcaraz der Karriere-Grand-Slam bis zu den Australian Open 2027, übertrumpft Nadals Kronprinz sein Vorbild: „Rafa“ komplettierte 2010 mit 24 Jahren seine Sammlung aus French Open, US Open, Wimbledon sowie Australian Open. Als bis dahin jüngster Spieler aller Zeiten. Sollte Alcaraz die Australian Open 2025 gewinnen, würde der junge Überflieger dem letzten „Alten“, genannt „Nole“, die Show um dessen 25. Grand-Slam-Titel stehlen. Er würde Zverev den heiß ersehnten ersten Major-Titel wegschnappen und Sinner die Titelverteidigung verderben. Um seine Chancen auf den jüngsten Karriere-Grand-Slam aller Zeiten zu steigern, holte Alcaraz Samuel López, den ehemaligen Coach von Pablo Carreño Busta, ins Team. Zusätzliche Inspirationen sind auch bei den Jungen stets gefragt.
Das geht sogar dem Nachwuchs von Roger Federer so. Der „Maestro“ gewann die Australian Open sechsmal und insgesamt 20 Grand-Slam-Titel. Dennoch bedankt sich der Schweizer in seinem Abschiedsbrief bei seinem einstigen Rivalen Rafael Nadal dafür, dass seine Kinder auf dessen Akademien so viel gelernt hätten.
Jeder lebt seinen Stil und seine Zeit aus: Nadal und Federer spielten auf den Tenniscourts sehr individuell und doch ähnlich erfolgreich. Der Schweizer fühlte sich 2004, als er nach den Australian Open erstmals die Nummer eins des Tenniskosmos war, als sei er auf dem Gipfel der Welt angekommen. Bis ein paar Monate später der junge Rafa erschien und mit seinem Bizeps, der aus dem ärmellosen Shirt lugte, die Kameralinsen und Bildschirme für sich einnahm. Ein Talent, das bestimmt einmal ein Grand Slam gewinnen könne, will Federer damals gedacht haben.
„Die Art und Weise, wie ich in Erinnerung bleiben will, ist als eine gute Person aus einem kleinen Dorf auf Mallorca“, sagt Nadal, als er sich im November 2024 von der Tour verabschiedet. Die zurückgetretene Championesse, Serena Williams, brachte es auf 23 Grand-Slam-Titel, sieben davon in Australien. Der „alte“ Spanier auf 22 der Major-Trophäen, zwei davon „Down Under“. Zu seinem Karriere-Ende bedankt sich Williams auf Instagram bei „Rafa“: „Du hast mich inspiriert, besser zu sein, härter zu spielen, zu kämpfen, nie aufzugeben und mehr zu gewinnen. Keine Ausreden, mach nur den Sport. Dein Vermächtnis wird niemals sterben.“
Als am 19. November 2024 das spanische Team in Malaga einzieht, gelten die lautesten Jubelchöre Rafael Nadal, der zum letzten Match seiner Profikarriere antritt. „Rafa, Rafa“. Der 38-Jährige sieht nicht viel von den Zuschauern beim Davis-Cup-Viertelfinale gegen die Niederlande. Er weint, die Tränen verschleiern den Blick. Der geht vielleicht auch gerade zurück. In seine fast 20 Jahre im Tenniszirkus und zu jenem Moment in Paris, als er mit 19 Jahren als Debütant die French Open gewann.
„Es schließt sich ein Kreis“
Vor seiner letzten Partie weiß Nadal, dass seine Füße nicht mehr mitspielen. Dass ihm Power gegen Bodic van de Zandschulp fehlen wird, weil er keine Match-Praxis mehr hat. Egal. Der Mann, der als Teenager damit begann, seine Gegner das Fürchten zu lehren, beendet wenige Minuten nach Mitternacht mit einem Fehler seine letzte Partie. Mit sich selbst im Reinen: „Ich habe mein erstes Davis-Cup-Spiel verloren und heute mein letztes auch. Es schließt sich in gewisser Weise ein Kreis“.
Kaum symbolisch wirkt es daher, dass bald danach Spanien aus den Davis Cup Finals in der Heimat fliegt. Obwohl „Rafa“ seinen Kronprinzen Alcaraz erfolgreich anfeuert und der sein Einzel gewinnt. Doch beim Doppel zeigt sich einmal mehr, dass auch die Niederlande derzeit sehr starke Spieler in allen Varianten des Sports haben.
„Vom Kind, das dich im Fernsehen gesehen hat und davon träumte, Tennisspieler zu werden. Bis zu dem Athleten, der die große Ehre hatte, in Roland Garros neben Dir zu spielen und Spanien bei den Olympischen Spielen zu vertreten. Vielen Dank, dass du auf allen Ebenen ein Vorbild warst. Dein Vermächtnis ist nicht zu übertreffen“, kommentierte der 21-jährige Alcaraz Nadals Rückzugsankündigung. „Ich werde dich sehr vermissen, wenn Du aufhörst.“
Doch zurück zu Djokovic, der noch da ist. Vergangenes Jahr verlor der Serbe sein erstes Halbfinale seit 2018 bei den Australian Open. Gegen Sinner, den derzeit erfolgreichsten des jungen Übernahme-Trios, bestehend aus Sinner, Alcaraz und Alexander Zverev. Novak unterliefen Massen an unerzwungenen Fehlern, während Sinner souverän performte.
Der Italiener ließ 2024 seine Gegner oft atem- und ratlos zurück. Als eine „im Moment perfekte Maschine“, mit sauberen, präzisen Schlägen, „fantastischer Rückhand“ und einer enorm schnellen Beinarbeit, lobt Eurosport-Experte und Ex-Profi Álex Corretja den 23-Jährigen. Er gebe von Anfang bis Ende Gas.
Ein wenig Federer scheint da durch, der Tennis ebenfalls schnell und aggressiv mochte. Vor allem im fortgeschrittenen Alter, als er Punkte gern schnell für sich entschied, um mit seinen Kräften umzugehen. Fürs elegante Spiel mit dem Netz, im Stil eines Maestros, muss Sinner noch weiter an seiner Serve-and-Volley-Taktik feilen. Doch auch Nadal ergänzte sein Repertoire erst allmählich durchs Vorgehen ans Netz.
Und was sagt Sinner? Als er 2024 die Australian Open gewann, antwortete der Südtiroler während seines Fototermins auf die Frage eines jungen Tennisschülers nach seinen Idolen: „Als ich jünger war, war Roger Federer immer die größte Inspiration, wegen der Art, wie er sich auf dem Platz verhält und wie er Menschen abseits des Platzes behandelt. Ich würde sagen, eine Mischung aus ihm und Rafa, wegen Rafas Kampfgeist. Sie sind großartige Sportler.“
Nadal hatte sich Sinner sogar als Trainingspartner für die Australian Open 2021 auserkoren. Kein Wunder, dass der Italiener dem Spanier über die sozialen Medien für diese Erfahrungen dankte: „Ich werde nie vergessen, wie ich vor ein paar Jahren die Gelegenheit hatte, einige Wochen mit dir zu trainieren. Dich nicht nur als Athlet zu beobachten, sondern auch als Mensch abseits des Platzes kennenzulernen, war etwas ganz Besonderes.“
Auch Sinner ist ein Powerplayer. Allerdings spielt er sehr konstant, während Nadal im Laufe eines Matches Formschwankungen zeigt. Die beidhändige Rückhand des Italieners ist die härteste aller Spieler auf der Tour und dennoch ungewöhnlich präzise. Die Präzision der beidhändigen Rückhand verbindet ihn mit Djokovic. Doch Sinners Härte ist bislang einzigartig.
Sparsamer mit Energie haushalten
Nadal dominierte gern ein Match. Alcaraz auch. Im Halbfinale des Six Kings Slams 2024 im Oktober in Riad setzten akkurate Schläge und beeindruckende Aufschläge des Jüngeren den Älteren so sehr unter Druck, dass dem älteren Spanier auch seine uralte Defensive-Strategie wenig nutzte. Der Jüngere erreichte auch die schwierigsten Bälle. Die Stab-Übergabe vom Sandplatz-König auf seinen Kronprinzen vollzog sich so ohne relevante Gegenwehr bei einem Show-Event. Gegenüber DAZN bewunderte Nadal „das Tier“ Alcaraz und bot ihm an, dass er ihn jederzeit anrufen könne.
Aus seinem Erfahrungsschatz wird der 38-Jährige dem 21-Jährigen nach wie vor etwas mitgeben können. Nadal über den jüngeren Spanier: „Man hat mir schon vor langer Zeit gesagt, dass es da einen sehr guten Spieler geben würde, und als wir zum ersten Mal in Australien trainiert haben, habe ich gemerkt, dass er Dinge kann, die die anderen nicht können.“
Gegen Federer, bei dem kaum je Schweiß zu fließen schien, spielte Alcaraz nie. Doch der Schweizer schaute ihm beim Laver Cup zu. Und riet danach dem jungen Spanier, mit seiner Energie sparsam einzuteilen. Gegenüber dem australischen Medium „Stan Sport“ äußerte der 43-Jährige, der trotz aller Schnelligkeit auf dem Platz klug und bedächtig wirkte: „Er muss vorsichtig sein, dass er nicht jedem Ball hinterherrennt, weil das nicht nötig ist.“
Mit Blick auf die Australian Open 2025 sagte der 20-fache Grand-Slam-Sieger Federer dennoch über seinen Favoriten Alcaraz: „Er wird physisch perfekt vorbereitet sein.“