Die Hirschbrunft, die im Oktober ihren Höhepunkt erreicht, ist ein großes und lautstarkes Spektakel – besonders im einzigen Nationalpark der Schweiz. Für Ahs und Ohs sorgen zudem Bartgeier und Steinböcke.
Speck anfressen, Proviant horten, Winterlager organisieren: Nach dem Sommer haben die meisten Tiere ordentlich zu tun. Bei Hirschen gestaltet sich der Herbst zwar auch sehr aktiv – aber gänzlich anders. Während der Brunftzeit nehmen die stattlichen Geweihträger nämlich so gut wie keine Nahrung zu sich. Mehr noch: Sie verlieren in nur wenigen Wochen fast ein Viertel ihres Gewichts. Die hormongefluteten Hirsche sind ja auch fast rund um die Uhr damit beschäftigt, um (mehrere) Weibchen zu buhlen. Und damit, Nebenbuhler auszuschalten. Nähert sich ein Konkurrent, kommt mitunter das mächtige Geweih zum Einsatz. Aus den sonst so friedlichen Wildtieren werden in dieser Zeit erbitterte Feinde – und nimmermüde Liebhaber. Gleich mehrmals am Tag paaren sie sich mit den Hirschkühen. Begleitet wird all das von inbrünstigem Röhren. Keine Frage: Wenn die heiseren, lauten Schreie dann auch noch in einem engen Tal widerhallen, macht das gehörig Eindruck. Auch bei Menschen!
„Anderswo halten die Hirsche ihre Brunft meist im Wald ab, bei uns jedoch lassen sich die offenen Brunftplätze sehr gut einsehen“, sagt Annina Buchli. Die im Oberengadin aufgewachsene 59-Jährige arbeitet als Exkursionsleiterin im Schweizerischen Nationalpark, den viele als besten Spot zur Hirschbrunft-Beobachtung bezeichnen. Insbesondere die Val Trupchun, wie es im Bündnerdeutsch heißt. Das von Zwei- und Dreitausendern umringte, völlig unbebaute und nur zu Fuß erreichbare Hochtal reicht im Parksüden bis an die italienische Grenze und bietet gleich zwei prominente Aussichtspunkte. „Das liegt auch am strengen Wegegebot“, weiß Buchli. „Obwohl jeden Tag viele Besucher im Park unterwegs sind, trauen sich die Hirsche in offenes Gelände. Sie wissen, dass die Menschen auf den Wegen bleiben und ihnen nicht gefährlich werden.“ In seltenen Fällen kommt manch brunfttoller Hirsch schon mal bis auf 20 Meter heran. Und selbst bei einer normalen Beobachtungsdistanz von rund 400 Metern ist ein intensives Erlebnis garantiert.
Mekka für Freunde der Hirschbrunft
Der im Viereck Zernez, S-chanf, Ofenpass und Scuol im Engadin sowie in der Val Müstair gelegene Schweizerische Nationalpark ist eben nicht nur der älteste Nationalpark der Alpen, sondern auch der am strengsten geschützte. Das Fundament dazu legten 1914 die Gründungspioniere, die hier ein Stück einmaliger Gebirgslandschaft vollständig ihrer natürlichen Entwicklung überlassen und die sich daraus ergebenden Veränderungen erforschen wollten. Nach dem Motto „Beobachten, was passiert, wenn man die Natur in Ruhe lässt“ wurde daraus alpenweit eines der bedeutendsten „Freiluftlaboratorien“. Und ein Mekka für Freunde der Hirschbrunft. Die beginnt in der Regel Mitte September und endet meist Mitte Oktober. „Die Dauer variiert. Woran das liegt“, so Buchli, „wissen wir nicht genau. Die Brunft kann jedenfalls auch mal, wie 2021, extrem lang und intensiv sein.“
Das Wetter spielt mit Sicherheit eine große Rolle. Sind rasch wegtauende Schneefälle noch unproblematisch, besiegeln längere Schneephasen das Ende der Brunft- wie der Besucherzeit. Schließlich werden die Wege nicht geräumt. „Wir greifen, bis auf wenige Ausnahmen, nicht in die Natur ein, wir schauen nur zu“, erklärt Buchli. Demzufolge dauert die Saison im Nationalpark aufgrund seiner Höhenlage zwischen rund 1.400 und 3.100 Metern „nur“ von etwa Mitte Mai bis Oktober, höchstens bis November. Dennoch wollen in dieser Zeit, und das gehört auch zu Buchlis Aufgaben, rund 350 Führungen organisiert werden. Dazu zählen auch die rund siebenstündigen Hirschbrunft-Wanderungen in die Val Trupchun, die in diesem Jahr noch bis 19. Oktober jeden Donnerstag und bis 6. Oktober zusätzlich jeden Freitag stattfinden. Von Punt da Val da Scrigns, via Bus und „Zügli“ öffentlich erreichbar, geht es dann etwa zwei Stunden hinauf zur Alp Trupchun auf etwa 2.000 Meter. Bevor die Gruppe den Rückweg der 14 Kilometer langen, mit einer gewissen Grundkondition gut machbaren und bei jedem Wetter durchgeführten Wanderung angeht, wird Brotzeit gemacht – und dabei ausgiebig das tierische Treiben am Hang gegenüber beobachtet. Aufnahmegerät, Teleobjektiv und Extraspeicherkarte leisten gute Dienste. Ein Fernglas sowieso. Wobei man das, wenn sich die Hirsche in der Nähe aufhalten, meist gar nicht braucht, ebenso wenig für den Blick auf die goldgelben Lärchen, die für Farbe im überwiegend grünen Nadelwald sorgen.
Etwa 350 Touren pro Saison
Guides kennen den Weg und die besten Plätze und können viel über das Rotwild erzählen. Finden würde man die Hirsche jedoch auch selbst. Schließlich ertönt ihr Röhren fast den ganzen Tag über. Plus: Allein in der Val Trupchun, Beiname „Hirscharena“, tummeln sich rund 500 Hirsche. Buchli jedoch rät: „Wer eigenständig unterwegs ist, informiert sich idealerweise vorab über die Webseite, die App oder im Nationalparkzentrum in Zernez.“ In vier Ausstellungsräumen und mittels mehrsprachiger Audioguides erfahren Besucher einiges über die größte Huftierart im Nationalpark, von ihrer Ausrottung im 19. Jahrhundert bis zu aktuellen (Nicht-)Jagdkonflikten. Und dass es jenseits der Hirsche noch so viel mehr zu sehen gibt: Murmeltiere eigentlich immer, auch Steinadler und Gämse. Und immer häufiger Steinböcke und Bartgeier, die vor rund 100 respektive 30 Jahren wieder angesiedelt wurden – zwei Ausnahmen, bei denen in die Natur eingegriffen wurde – und die sich seither erfolgreich vermehrt haben. Die Chance, bei einer Wanderung Mitteleuropas größten Vogel zu entdecken, ist nicht so klein: Mit bis zu drei Metern Flügelspannweite erkennt man den majestätischen Greifvogel auch aus größerer Entfernung.
Im Übrigen kommen in der Val Trupchun nicht nur Tierfreunde zum Zug. Das idyllische Tal beherbergt aufgrund seiner fruchtbaren Tonböden und der mannigfaltigen Vegetation, die von dichtem Nadelwald bis zu hochalpinen Flechten und Moosen reicht, eine ausgesprochen artenreiche Pflanzenwelt. Das zeigt sich etwa an raren Orchideen, diversen Enzianarten und dem Türkenbund. „Wobei Botaniker leiden“, sagt Buchli. Der Grund: „Aufgrund des Wegegebots hat man keine Chance, näher an eine seltene Pflanze heranzukommen, geschweige denn, sie mitzunehmen und unter der Lupe zu bestimmen.“ Ihnen bleibt nur der Blick aus der Ferne. Und in die Ferne.