Das Kabarett-Theater „Die Stachelschweine“ ist 75 Jahre alt. Das Ensemble blickt im Jubiläumsprogramm aber nicht in die Vergangenheit, sondern ins Jahr 2029.
Man könnte Frank Lüdecke einen Störer der Totenruhe nennen. Er macht das beruflich: Kabarett. Und das Kabarett, sagt Frank Lüdecke, „war schon immer tot“. Er denkt kurz nach, scheint in wenigen Sekunden die ganze Geschichte dieser Kunstform zu rekapitulieren und sagt dann: „Offenbar war es sogar eine Totgeburt.“ Aus dem Mund des 63-Jährigen klingt das verrückt. Kabarett ist sein Leben. Und zwar bereits fast sein ganzes Leben. „Ich war 17“, erinnert sich Frank Lüdecke, „und ich habe gesagt: Ich werde nichts anderes mehr machen als das.“
Glück, viel Fleiß und Durchhaltevermögen
Sein Deutschlehrer hatte ihn damals für eine Schulaufführung „zwangsverpflichtet“. Und da stand er dann im Straßenfeger-Anzug auf der Bühne der Berliner Waldschule und hat Wolfgang Gruner imitiert, einen der Stars des Kabarett-Theaters „Die Stachelschweine“. Das Publikum waren 500 Eltern, Lehrer und Schüler. „Ich war der Star des Abends“, erinnert sich Frank Lüdecke. Was auch daran gelegen habe, dass er eigene Texte vorgetragen hat. Dass das, was er sich damals nach der Schulaufführung vorgenommen hatte, wirklich gelang, habe mit Glück, viel Fleiß, Ehrgeiz und Durchhaltevermögen zu tun gehabt. Und damit, dass er immer mal wieder „zur richtigen Zeit am richtigen Ort war“, sagt Lüdecke.
Zur Abiturfeier 1979 gründete er die Kabarett-Gruppe „Phrasenmäher“. An der Freien Universität, wo er Germanistik studierte und mit einer Magisterarbeit über Kurt Tucholsky abschloss, führte er die Gruppe als Studentenkabarett weiter. Frank Lüdecke war im Ensemble des Düsseldorfer „Kom(m)ödchen“, trat in so ziemlich jeder Satire-Sendung im Fernsehen auf- von „Scheibenwischer“ bis „Die Anstalt“ und wurde mit vielen Preisen geehrt. In Berlin spielte er Soloprogramme unter anderem in der „Distel“, im Schlossparktheater und bei den „Wühlmäusen“. Die „Distel“ leitete er auch zwei Jahre lang.
Im Sommer 2021 ist Frank Lüdecke dort angekommen, wo alles begann: im Kabarett-Theater „Die Stachelschweine“ im Europa-Center in der Nähe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Vor fünf Jahren hat er dort die künstlerische Leitung übernommen. Seine Ehefrau Caroline Lüdecke wurde Geschäftsführerin. Das sei – auch ohne das Wissen, dass eine Pandemie erst mal zur Zwangspause führen würde – sehr mutig gewesen, sei ihm immer wieder gesagt worden, erzählt Lüdecke. Aber: „Das hat mit Mut nichts zu tun. Es ist Naivität. In so ein Ding springt man nur mit Elan und Ahnungslosigkeit. Wenn man alles abwägt, würde man es wohl nie machen.“
Aber die Versuchung war groß. „Ich sehe mich noch als Schüler hier sitzen und die großen Helden bewundern“, sagt Frank Lüdecke. Nun spielt er hier nicht nur selbst, sondern trägt als künstlerische Leitung dazu bei, eine Institution am Leben zu halten. „So eine Traditionseinrichtung sollte nicht untergehen“, sagt er. Und Tradition haben die „Stachelschweine“ wie kein anderes deutsches Kabarett-Theater. Im Herbst 1949, also vor 75 Jahren, sind sie im Künstler- und Studentenlokal „Badewanne“ gegründet worden. Zum Namen „Die Stachelschweine“ wurden die Gründer durch eine Zeitschrift der 1920er Jahre inspiriert: „Das Stachelschwein“. Herausgeber war der Schriftsteller und Kabarettist Hans Reimann.
„Die Stachelschweine“ etablierten sich mit ihrem humorvoll-satirischen Blick auf die Gesellschaft und Politik zu einer festen kulturellen Größe im Nachkriegs-Berlin. 1955 wurde das Kollektiv in eine GmbH umgewandelt. Gesellschafter waren vor allem Ensemblemitglieder und Regisseure. Zehn Jahre später entschied sich die GmbH, im neu errichteten Europa-Center ein eigenes Kabarett-Theater zu bauen. Am 17. April 1965 wurde es eröffnet, knapp zwei Monate später gab es die erste Premiere mit dem Titel „…und vor zwanzig Jahren war alles vorbei“.
Das erste Programm 1949 wurde noch ohne einen eigenen Titel auf die Bühne gebracht, erst später wurde es mit „Alles irrsinnig komisch“ betitelt. Unter der Regie von Alexander Welbat spielten zu Beginn Traudel Dombach, Dorle Hintze, Ilse Marggraf, Horst Gabriel, Günter Pfitzmann, Rolf Ulrich und Alexander Welbat selbst. Kabarett, das waren keine Solokünstler, das war ein Schauspiel-Kollektiv. Diese Tradition weiterzuführen ist Caroline und Frank Lüdecke wichtig. „Wir machen Ensemble-Kabarett“, sagt er. Zum Ensemble gehören zurzeit neun Schauspielerinnen und Schauspieler – sechs Frauen, drei Männer. Gestartet sind die Lüdeckes vor fünf Jahren mit einer dreiköpfigen Gruppe. „Es kommen inzwischen wieder gezielt Schaupielerinnen und Schauspieler zu uns, die gerne bei uns mitmachen würden. Das war am Anfang nicht so.“
„Ich hab’ noch einen Tesla in Berlin“
Das mag auch daran gelegen haben, dass keiner so richtig wusste, was da passiert – und ob das Zukunft hat. „Manche halten Kabarett für überholt“, weiß Frank Lüdecke. Das sieht er nicht so, aber er kennt die Herausforderungen. Zum einen werden im Internet politische Vorgänge fast schon in dem Moment, in dem sie geschehen, von irgendjemand kommentiert, eingeordnet, veralbert. Zum anderen werde das klassische Kabarett „von vielen Medien ignoriert“. „Dadurch, dass man das im Fernsehen nicht mehr sieht, wissen viele gar nicht mehr, dass es das gibt“, sagt Lüdecke. Dabei sei Kabarett eine aktuelle Kunstform. „Wir wollen etwas aussagen über unsere Zeit und gleichzeitig unterhaltsam sein“, erklärt er.
Im Jubiläumsprogramm „Ich hab’ noch einen Tesla in Berlin“ entwirft Frank Lüdecke zusammen mit Sören Sieg eine Zukunftsvision: 2029 gerät die neue Bundeskanzlerin Sahra Wagenknecht unter Druck, weil die Staatsverschuldung unaufhaltsam voranschreitet. Das Käsebrötchen kostet 14 Euro, BASF und Bayer sind nach Asien ausgewandert, VW und BMW gehören zu Tesla. Die Kreditwürdigkeit der Bundesrepublik wurde auf BB heruntergestuft, die Steuern gehen zur Hälfte für Zinszahlungen drauf. Da hat die Bundeskanzlerin eine Idee: Mit einer einzigen Maßnahme, so rechnet sie vor, können alle ihre Wahlversprechen finanziert werden: Rente ab 55, kostenloser öffentlicher Verkehr und Mietendeckel auf dem Stand von 1989. Es ist der „Geheimplan Berlin“. Der sieht vor, dass Berlin verkauft wird. Ein Elektroautohersteller, Betreiber von Sprachnachrichten-Diensten, Mars-Raketen und Gehirnimplantaten schlägt sofort zu.
Das Stück ist keine Häppchen-Comedy, erklärt Frank Lüdecke. „Die Stachelschweine“ machen das, worin sie immer gut waren: Sie erzählen eine Geschichte, machen satirisches Theater. „Diese Art satirischer und politischer Auseinandersetzung mit der Gegenwart hat Zukunft“, gibt sich Lüdecke überzeugt – und fordert diejenigen, die das anders sehen, heraus: „Wenn jemand glaubt, dass Kabarett tot ist, soll er herkommen.“