Seit dem Terrorangriff der Hamas laufen Bemühungen auf Hochtouren, einen „Flächenbrand“ zu verhindern. Der Historiker Alexander Friedman hat den Angriff vor Ort erlebt. Seine Analyse: Ein großer Krieg ist nicht zwangsläufig, aber die Gefahr ist sehr groß.
Herr Friedman, Sie haben den Terrorangriff der Hamas in Israel erlebt. Welche Eindrücke haben Sie von den Ereignissen und Reaktionen?
Was ich an den ersten Kriegstagen in Israel gesehen habe: Es gab keine Panik, es gab einen tiefen Schock. Viele Menschen haben die Frage gestellt, wie es dazu kommen, wie so etwas passieren konnte, wie es bestellt ist um die israelische Armee, um die Geheimdienste, was mit der politischen Führung los ist. Es gibt diese ganzen technischen Maßnahmen, den Grenzzaun und anderes: Warum konnte die Hamas das schaffen? Das waren die ersten Fragen. Diese Fragen sind nicht verschwunden, aber die stehen momentan nicht mehr im Mittelpunkt. Was sofort aufkam, war die Frage nach der Rache und der Schande. Es geht um das nahöstliche Prinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Israel hat diese Schande erlebt und für diese Schande muss man Rache üben. Diejenigen, die Israel diese Schande angetan haben, müssen bestraft werden. Die Grundstimmung war: Wut, Rachegefühle, Sehnsucht nach Bestrafung, und dass die Hamas nicht mehr existieren darf. Wir haben jetzt eine geschlossene Gesellschaft, die die Abrechnung mit der Hamas und deren Zerstörung anstrebt.
Der Gedanke, was danach kommen kann, spielt keine Rolle?
Ich habe diese Frage auch vielen Kolleginnen und Kollegen in Israel gestellt, nach dem Motto: Jetzt kommt ein Krieg gegen die Hamas, die Abrechnung, und was kommt danach? Soll Israel den Gazastreifen verwalten? Was wird mit der Bevölkerung passieren, die im Gazastreifen lebt? Ich habe darauf keine Antworten bekommen. Die meisten haben mir gesagt: Die Fragen, die Du stellst, sind keine israelischen Fragen, das sind europäische Fragen. Das interessiert euch in Europa, wir denken nicht so. Uns geht es jetzt darum, die Hamas zu bestrafen. Wenn wir mit Hamas abgerechnet haben, dann denken wir weiter. Dabei kann niemand voraussagen, wie die Operationen ablaufen. Momentan heißt es nur: Die Operation wird schwierig, mit großen Verlusten, und wird lange dauern. Aber wie lange und mit wie hohen Verlusten, was mit dem Gazastreifen wird, das sind alles Fragen, auf die es bisher keine Antworten gibt.
Von den Unterstützern Israels gibt es immer wieder die Mahnung: Wenn ihr glaubt, das machen zu müssen, dann haltet euch dabei ans Völkerrecht. Kann diese Mahnung etwas bewirken?
Diese Mahnung stößt in Israel auf große Ablehnung und die Menschen, die das sagen, werden drastisch kritisiert. Die Mahnung kann ich verstehen, aber politisch war das nicht unbedingt so elegant in diesem Moment. Was Israel immer betont: Es gibt in der israelischen Armee hohe moralisch-ethische Kriterien, man betrachtet sich als moralischste Armee dieser Welt. Und wenn es jetzt diese Mahnungen gibt, dann wird Israel die Absicht unterstellt, mit den Palästinensern nicht unbedingt nach Völkerrecht oder humanitären Prinzipien umzugehen. Es gibt Anweisungen, dass die Menschen den Gazastreifen verlassen sollten, dass sie versuchen sollten, in andere Teile des Gazastreifens zu gehen. Israel ist nicht daran interessiert, dass die Anzahl ziviler Opfer hochsteigt. Das würde den Ruf des Staates ruinieren. Das stimmt alles, steht aber nicht im Vordergrund. Wenn darüber nachgedacht wird, dann im Blick darauf, welche Konsequenzen das für den Staat Israel haben könnte. Die Befürchtungen, die gerade im Westen geäußert werden, sind ja berechtigt. Und wir wissen ganz genau, wenn schlimme Sachen mit der palästinensischen Zivilbevölkerung passieren sollten, wird das auch Auswirkungen haben auf die Lage in Deutschland und Europa. Die Lage würde explodieren. Es ist also in der Tat eine schwierige Frage, aber aus israelischer Sicht keine zentrale Frage.
Kann man sagen, dass das terroristische Kalkül der Hamas bislang aufgeht?
Man kann nicht sagen, dass Hamas bisher ein Verlierer ist. Hamas gewinnt derzeit in der Propaganda, nicht in der westlichen Welt, aber in der arabischen Welt. Das wird auch von der russischen Propaganda unterstützt. Ich glaube, dass Hamas genau mit diesem Szenario kalkuliert hat. Das Leben von Menschen im Gazastreifen zählt nicht für Hamas, es gibt nur die obersten Ziele, und das funktioniert bisher. Das Verhältnis zwischen Israel und arabischen Staaten ist wieder schlecht, es gibt weltweit viele antiisraelische Aktionen und die Hamas existiert weiterhin, obwohl die Israelis den Gazastreifen bombardieren. Bisher hat die Hamas aus eigener Sicht sicherlich einiges erreicht. Und es hat die Schwäche Israels aufgezeigt. Hamas ist es gelungen, einzudringen, Menschen zu töten, damit die israelische Gesellschaft zu schockieren und darüber hinaus auch noch Geiseln zu nehmen.
Derzeit gehen fast alle Bemühungen dahin, einen „Flächenbrand“ zu vermeiden, also die Ausweitung des Konflikts. Ist das noch zu vermeiden?
Hoffentlich. Hoffentlich werden wir das vermeiden. Da spielen die Amerikaner eine Rolle als Abschreckung, indem sie sagen: Wenn andere in den Krieg eingreifen, werden wir darauf reagieren. Die Hoffnung ist, dass die Abschreckung auf den Iran und die Hisbollah wirkt. Auf der anderen Seite ist es schwer vorstellbar, dass der Iran es einfach so hinnehmen würde, wenn Israel die Hamas zerstört. Die Gefahr der Eskalation ist sehr groß. Andererseits: Wenn die Israelis ihre Ziele im Gazastreifen erreichen sollten, dann ist durchaus vorstellbar, dass sie das fortsetzen würden, um auch mit der Hisbollah fertigzuwerden. Deshalb nochmals: Die Gefahr ist sehr groß, zumal wir nicht wissen, was die Israelis geplant haben. Vielleicht gibt es eine besonders kreative Operation, die wir uns noch nicht vorstellen können – vielleicht auch nicht. Es ist nicht zwangsläufig, dass es zu einem großen Krieg kommt – aber die Gefahr ist da.
Welche Rolle spielt dabei Europa?
Europa spielt eine gewisse Rolle, aber eher eine symbolische. Wenn wir uns die ganzen Solidaritätsbesuche betrachten, war der wichtigste der von Joe Biden, und dass Biden nicht nur Solidarität bekundet, sondern auch finanzielle Unterstützung und Waffenlieferungen angekündigt hat. Was von der europäischen Seite kommt, ist eher symbolisch und eine moralische Unterstützung. Man kann die europäischen Bemühungen aus einer europäischen Perspektive sehen. Europa ist längst ein Nebenschauplatz des Nahostkonfliktes. Wenn der eskaliert, würde sich auch die Lage in Europa dramatisch verschlechtern. Und es gibt das Interesse, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Dass der deutsche Bundeskanzler so schnell nach Israel geeilt ist, um Solidarität zu bekunden, hängt auch mit der deutsch-jüdischen Geschichte und der Aufarbeitung der eigenen Geschichte in Deutschland zusammen.
Die EU insgesamt ist sich nicht einig, wie man mit der Entwicklung umgehen soll, selbst in Mitgliedsstaaten wird darum gerungen. Welche Folgen kann das haben?
Der Nahostkonflikt hat auch ein Potenzial, Europa zu spalten und große Turbulenzen hervorzurufen. Das umso mehr, als Akteure von außen wie beispielsweise Türkei, Russland und Iran versuchen, das zu nutzen. Wir haben jetzt zwei Kriege, in die Europa involviert ist, in der Ukraine und jetzt dem Nahen Osten. Es gibt verschiedenste Dimensionen, die Europa treffen können. Und dann nicht zu vergessen die Flüchtlingskrise.
Wenn wir uns, sagen wir in zehn Monaten, wieder zu einem Gespräch treffen, worüber werden wir dann reden?
Hoffentlich über Kriege, die vorbei sind, und nicht über den Dritten Weltkrieg.